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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Welt zwar ist im Drama zur Dekoration geworden; die epische pgo_406.002
Beschreibung flüchtet in eine Scenerie, deren vollkommene Belebung pgo_406.003
allerdings erst die wirkliche Aufführung des Stückes vollzieht. Flüchtige pgo_406.004
Züge aus der Außenwelt verwerthet der Dramatiker nur für die Beleuchtung pgo_406.005
des Seelengemäldes -- wir erinnern an Shakespeare's Dunkan, pgo_406.006
der die milde Luft und die nistenden Tauben in Macbeth's Burg, diesem pgo_406.007
Tod bringenden Asyl, erwähnt. Dagegen wird die epische Erzählung pgo_406.008
im Dramatischen stets Platz greifen müssen, und die hellenische Tragödie, pgo_406.009
die, wie die hellenische Lyrik, den plastisch-epischen Grundcharakter der pgo_406.010
griechischen Muse nicht verleugnete, macht einen ausgedehnten Gebrauch pgo_406.011
von ihr. Da nicht die ganze Handlung auf der Bühne, unter der wir pgo_406.012
zunächst nur die innere Bühne der Vorstellung verstehn, vor sich gehn pgo_406.013
kann: so muß ein großer Theil der Handlung, der hinter den Koulissen pgo_406.014
spielt, erzählt werden. Es entsteht nun die Frage, ob die Erzählung pgo_406.015
nur das für den dramatischen Fortgang Wesentliche zu berühren habe, pgo_406.016
oder sich in einer selbstständigen epischen Darstellung ergehen dürfe. Jn pgo_406.017
den antiken Mustern ist das letztere unbedingt der Fall, ebenso wie sich die pgo_406.018
Lyrik in dem tragischen und komischen Chor ein selbstständiges Organ pgo_406.019
schuf. Auch bei Shakespeare und Schiller finden sich Erzählungen, pgo_406.020
in denen die epische Darstellungsweise angewendet ist -- wir erinnern pgo_406.021
z. B. an Raoul's Erzählung in der "Jungfrau," an die des schwedischen pgo_406.022
Hauptmanns im "Wallenstein." Doch muß als Regel festgehalten pgo_406.023
werden, daß die epische Erzählung im Drama nur dann erlaubt ist, pgo_406.024
wenn sie ein neues, den Fortgang der Handlung förderndes Moment pgo_406.025
hinzubringt, wenn sie ein Hebel und nicht ein Hemmniß der dramatischen pgo_406.026
Spannung wird. Nach zwei Seiten hin färbt schon die dramatische pgo_406.027
Form die Erzählung in anderer Weise, als das Epos. Der epische pgo_406.028
Erzähler ist objektiv, unbefangen, nur der Sache hingegeben -- der pgo_406.029
dramatische steht selbst unter der Macht des Eindrucks, den er hervorbringt. pgo_406.030
Man denke an die vibrirende Siegesfreude in Raoul's, an pgo_406.031
die gedämpfte Wehmuth in des schwedischen Hauptmanns Erzählung. pgo_406.032
Dann aber hören wir im Drama nicht blos den Erzähler, sondern wir pgo_406.033
sehn auch die Wirkung, die er hervorbringt, in unmittelbarer Lebendigkeit. pgo_406.034
Die Erzählung ist episch, aber ihre epische Ausführung wirkt pathologisch! pgo_406.035
Während der schwedische Hauptmann erzählt, sehn wir in der

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[406/0428] pgo_406.001 Welt zwar ist im Drama zur Dekoration geworden; die epische pgo_406.002 Beschreibung flüchtet in eine Scenerie, deren vollkommene Belebung pgo_406.003 allerdings erst die wirkliche Aufführung des Stückes vollzieht. Flüchtige pgo_406.004 Züge aus der Außenwelt verwerthet der Dramatiker nur für die Beleuchtung pgo_406.005 des Seelengemäldes — wir erinnern an Shakespeare's Dunkan, pgo_406.006 der die milde Luft und die nistenden Tauben in Macbeth's Burg, diesem pgo_406.007 Tod bringenden Asyl, erwähnt. Dagegen wird die epische Erzählung pgo_406.008 im Dramatischen stets Platz greifen müssen, und die hellenische Tragödie, pgo_406.009 die, wie die hellenische Lyrik, den plastisch-epischen Grundcharakter der pgo_406.010 griechischen Muse nicht verleugnete, macht einen ausgedehnten Gebrauch pgo_406.011 von ihr. Da nicht die ganze Handlung auf der Bühne, unter der wir pgo_406.012 zunächst nur die innere Bühne der Vorstellung verstehn, vor sich gehn pgo_406.013 kann: so muß ein großer Theil der Handlung, der hinter den Koulissen pgo_406.014 spielt, erzählt werden. Es entsteht nun die Frage, ob die Erzählung pgo_406.015 nur das für den dramatischen Fortgang Wesentliche zu berühren habe, pgo_406.016 oder sich in einer selbstständigen epischen Darstellung ergehen dürfe. Jn pgo_406.017 den antiken Mustern ist das letztere unbedingt der Fall, ebenso wie sich die pgo_406.018 Lyrik in dem tragischen und komischen Chor ein selbstständiges Organ pgo_406.019 schuf. Auch bei Shakespeare und Schiller finden sich Erzählungen, pgo_406.020 in denen die epische Darstellungsweise angewendet ist — wir erinnern pgo_406.021 z. B. an Raoul's Erzählung in der „Jungfrau,“ an die des schwedischen pgo_406.022 Hauptmanns im „Wallenstein.“ Doch muß als Regel festgehalten pgo_406.023 werden, daß die epische Erzählung im Drama nur dann erlaubt ist, pgo_406.024 wenn sie ein neues, den Fortgang der Handlung förderndes Moment pgo_406.025 hinzubringt, wenn sie ein Hebel und nicht ein Hemmniß der dramatischen pgo_406.026 Spannung wird. Nach zwei Seiten hin färbt schon die dramatische pgo_406.027 Form die Erzählung in anderer Weise, als das Epos. Der epische pgo_406.028 Erzähler ist objektiv, unbefangen, nur der Sache hingegeben — der pgo_406.029 dramatische steht selbst unter der Macht des Eindrucks, den er hervorbringt. pgo_406.030 Man denke an die vibrirende Siegesfreude in Raoul's, an pgo_406.031 die gedämpfte Wehmuth in des schwedischen Hauptmanns Erzählung. pgo_406.032 Dann aber hören wir im Drama nicht blos den Erzähler, sondern wir pgo_406.033 sehn auch die Wirkung, die er hervorbringt, in unmittelbarer Lebendigkeit. pgo_406.034 Die Erzählung ist episch, aber ihre epische Ausführung wirkt pathologisch! pgo_406.035 Während der schwedische Hauptmann erzählt, sehn wir in der

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/428>, abgerufen am 22.11.2024.