Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_396.001
Wunderbaren, für welches jeder feste Anhalt aufgegeben wird. Naiv, pgo_396.002
kindlich, spielend oder gespenstig, schauerlich schlägt es eine ganze Skala pgo_396.003
von Tönen an; aber mit der Virtuosität der selbstgenugsamen Phantastik. pgo_396.004
Es bewegt sich in der Region des Traumes und besitzt seine ganze pgo_396.005
Magie. Es verzaubert die Natur, läßt Thiere reden, aber nicht wie in pgo_396.006
der Fabel als allegorische Repräsentanten einer bestimmten Eigenschaft, pgo_396.007
sondern in aller bunten Frische und Freiheit der Jndividualität. Die pgo_396.008
Metamorphose ist seine Praxis, die Seelenwanderung sein Dogma. Es pgo_396.009
schwelgt in Glanz und Pracht, im feeenhaften Kolorit, im Kolossalen und pgo_396.010
Ueberraschenden, in einer hyperbolischen Wirklichkeit. Sein traumartiger pgo_396.011
Charakter schließt alles Lehrhafte, jede bestimmte Moral aus und läßt pgo_396.012
nur hier und dort eine Bedeutung, einen Sinn ahnungsvoll in seine pgo_396.013
vorüberfliehenden Erscheinungen hineinspielen. Die orientalischen Märchen pgo_396.014
sind farbenreich, die deutschen, von den Gebrüdern Grimm in den pgo_396.015
"Kinder- und Hausmärchen" gesammelt, treuherzig und sinnig. Was pgo_396.016
die Romantiker, der Däne Andersen und andere Kunstdichter auf diesem pgo_396.017
Gebiete geleistet, welches vor Allem der schöpferischen Phantasie des Volkes pgo_396.018
überlassen bleiben muß: das enthält theils des Wirren und Tendenziösen, pgo_396.019
theils des Süßlichen und Kindischen zuviel, um, besonders wo es pgo_396.020
von der Tradition abweicht oder gänzlich neuerfindet, auf ein anderes pgo_396.021
Publikum, als das des Boudoirs, zu wirken.

pgo_396.022
Die Novelle, die das Wunderbare des Märchens ausstößt, ist die pgo_396.023
kleine prosaische Erzählung einer Begebenheit, in welcher der rasche und pgo_396.024
spannende Fortgang der Situationen zu einer entscheidenden Krisis die pgo_396.025
epische Breite des Romans, seine tiefere Charakteristik und ausgeführte pgo_396.026
Seelenmalerei vertritt. Die Novelle verhält sich zum Roman, wie die pgo_396.027
poetische Erzählung zum Epos. Sie ist leichter, frischer, energischer und pgo_396.028
erinnert mehr an den rascheren Fortschritt, Scenen- und Situationswechsel pgo_396.029
und innern Zusammenhalt des Drama. Die Novelle darf nur pgo_396.030
einen Knoten schürzen und lösen; sie erfordert deshalb Erfindungsreichthum pgo_396.031
und Gewandtheit, glücklichen Griff, kühnen Wurf, ineinandergreifende pgo_396.032
Komposition. Sie soll unterhalten -- es kommt nur darauf an, pgo_396.033
ob die Unterhaltung mehr oder minder geistreich ist. Gerade durch ihre pgo_396.034
größere Kürze kann die Novelle pikant und drastisch wirken, sie kann ein pgo_396.035
sinnreiches Zeit- und Lebensbild geben; sie kann aber auch blos durch

pgo_396.001
Wunderbaren, für welches jeder feste Anhalt aufgegeben wird. Naiv, pgo_396.002
kindlich, spielend oder gespenstig, schauerlich schlägt es eine ganze Skala pgo_396.003
von Tönen an; aber mit der Virtuosität der selbstgenugsamen Phantastik. pgo_396.004
Es bewegt sich in der Region des Traumes und besitzt seine ganze pgo_396.005
Magie. Es verzaubert die Natur, läßt Thiere reden, aber nicht wie in pgo_396.006
der Fabel als allegorische Repräsentanten einer bestimmten Eigenschaft, pgo_396.007
sondern in aller bunten Frische und Freiheit der Jndividualität. Die pgo_396.008
Metamorphose ist seine Praxis, die Seelenwanderung sein Dogma. Es pgo_396.009
schwelgt in Glanz und Pracht, im feeenhaften Kolorit, im Kolossalen und pgo_396.010
Ueberraschenden, in einer hyperbolischen Wirklichkeit. Sein traumartiger pgo_396.011
Charakter schließt alles Lehrhafte, jede bestimmte Moral aus und läßt pgo_396.012
nur hier und dort eine Bedeutung, einen Sinn ahnungsvoll in seine pgo_396.013
vorüberfliehenden Erscheinungen hineinspielen. Die orientalischen Märchen pgo_396.014
sind farbenreich, die deutschen, von den Gebrüdern Grimm in den pgo_396.015
„Kinder- und Hausmärchen“ gesammelt, treuherzig und sinnig. Was pgo_396.016
die Romantiker, der Däne Andersen und andere Kunstdichter auf diesem pgo_396.017
Gebiete geleistet, welches vor Allem der schöpferischen Phantasie des Volkes pgo_396.018
überlassen bleiben muß: das enthält theils des Wirren und Tendenziösen, pgo_396.019
theils des Süßlichen und Kindischen zuviel, um, besonders wo es pgo_396.020
von der Tradition abweicht oder gänzlich neuerfindet, auf ein anderes pgo_396.021
Publikum, als das des Boudoirs, zu wirken.

pgo_396.022
Die Novelle, die das Wunderbare des Märchens ausstößt, ist die pgo_396.023
kleine prosaische Erzählung einer Begebenheit, in welcher der rasche und pgo_396.024
spannende Fortgang der Situationen zu einer entscheidenden Krisis die pgo_396.025
epische Breite des Romans, seine tiefere Charakteristik und ausgeführte pgo_396.026
Seelenmalerei vertritt. Die Novelle verhält sich zum Roman, wie die pgo_396.027
poetische Erzählung zum Epos. Sie ist leichter, frischer, energischer und pgo_396.028
erinnert mehr an den rascheren Fortschritt, Scenen- und Situationswechsel pgo_396.029
und innern Zusammenhalt des Drama. Die Novelle darf nur pgo_396.030
einen Knoten schürzen und lösen; sie erfordert deshalb Erfindungsreichthum pgo_396.031
und Gewandtheit, glücklichen Griff, kühnen Wurf, ineinandergreifende pgo_396.032
Komposition. Sie soll unterhalten — es kommt nur darauf an, pgo_396.033
ob die Unterhaltung mehr oder minder geistreich ist. Gerade durch ihre pgo_396.034
größere Kürze kann die Novelle pikant und drastisch wirken, sie kann ein pgo_396.035
sinnreiches Zeit- und Lebensbild geben; sie kann aber auch blos durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0418" n="396"/><lb n="pgo_396.001"/>
Wunderbaren, für welches jeder feste Anhalt aufgegeben wird. Naiv, <lb n="pgo_396.002"/>
kindlich, spielend oder gespenstig, schauerlich schlägt es eine ganze Skala <lb n="pgo_396.003"/>
von Tönen an; aber mit der Virtuosität der selbstgenugsamen Phantastik. <lb n="pgo_396.004"/>
Es bewegt sich in der Region des <hi rendition="#g">Traumes</hi> und besitzt seine ganze <lb n="pgo_396.005"/>
Magie. Es verzaubert die Natur, läßt Thiere reden, aber nicht wie in <lb n="pgo_396.006"/>
der Fabel als allegorische Repräsentanten einer bestimmten Eigenschaft, <lb n="pgo_396.007"/>
sondern in aller bunten Frische und Freiheit der Jndividualität. Die <lb n="pgo_396.008"/>
Metamorphose ist seine Praxis, die Seelenwanderung sein Dogma. Es <lb n="pgo_396.009"/>
schwelgt in Glanz und Pracht, im feeenhaften Kolorit, im Kolossalen und <lb n="pgo_396.010"/>
Ueberraschenden, in einer hyperbolischen Wirklichkeit. Sein traumartiger <lb n="pgo_396.011"/>
Charakter schließt alles Lehrhafte, jede bestimmte Moral aus und läßt <lb n="pgo_396.012"/>
nur hier und dort eine Bedeutung, einen Sinn ahnungsvoll in seine <lb n="pgo_396.013"/>
vorüberfliehenden Erscheinungen hineinspielen. Die orientalischen Märchen <lb n="pgo_396.014"/>
sind farbenreich, die deutschen, von den Gebrüdern <hi rendition="#g">Grimm</hi> in den <lb n="pgo_396.015"/>
&#x201E;Kinder- und Hausmärchen&#x201C; gesammelt, treuherzig und sinnig. Was <lb n="pgo_396.016"/>
die Romantiker, der Däne <hi rendition="#g">Andersen</hi> und andere Kunstdichter auf diesem <lb n="pgo_396.017"/>
Gebiete geleistet, welches vor Allem der schöpferischen Phantasie des Volkes <lb n="pgo_396.018"/>
überlassen bleiben muß: das enthält theils des Wirren und Tendenziösen, <lb n="pgo_396.019"/>
theils des Süßlichen und Kindischen zuviel, um, besonders wo es <lb n="pgo_396.020"/>
von der Tradition abweicht oder gänzlich neuerfindet, auf ein anderes <lb n="pgo_396.021"/>
Publikum, als das des Boudoirs, zu wirken.</p>
                <p><lb n="pgo_396.022"/>
Die <hi rendition="#g">Novelle,</hi> die das Wunderbare des Märchens ausstößt, ist die <lb n="pgo_396.023"/>
kleine prosaische Erzählung einer Begebenheit, in welcher der rasche und <lb n="pgo_396.024"/>
spannende Fortgang der Situationen zu einer entscheidenden Krisis die <lb n="pgo_396.025"/>
epische Breite des Romans, seine tiefere Charakteristik und ausgeführte <lb n="pgo_396.026"/>
Seelenmalerei vertritt. Die Novelle verhält sich zum Roman, wie die <lb n="pgo_396.027"/>
poetische Erzählung zum Epos. Sie ist leichter, frischer, energischer und <lb n="pgo_396.028"/>
erinnert mehr an den rascheren Fortschritt, Scenen- und Situationswechsel <lb n="pgo_396.029"/>
und innern Zusammenhalt des Drama. Die <hi rendition="#g">Novelle</hi> darf nur <lb n="pgo_396.030"/> <hi rendition="#g">einen</hi> Knoten schürzen und lösen; sie erfordert deshalb Erfindungsreichthum <lb n="pgo_396.031"/>
und Gewandtheit, glücklichen Griff, kühnen Wurf, ineinandergreifende <lb n="pgo_396.032"/>
Komposition. Sie soll unterhalten &#x2014; es kommt nur darauf an, <lb n="pgo_396.033"/>
ob die Unterhaltung mehr oder minder geistreich ist. Gerade durch ihre <lb n="pgo_396.034"/>
größere Kürze kann die Novelle pikant und drastisch wirken, sie kann ein <lb n="pgo_396.035"/>
sinnreiches Zeit- und Lebensbild geben; sie kann aber auch blos durch
</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[396/0418] pgo_396.001 Wunderbaren, für welches jeder feste Anhalt aufgegeben wird. Naiv, pgo_396.002 kindlich, spielend oder gespenstig, schauerlich schlägt es eine ganze Skala pgo_396.003 von Tönen an; aber mit der Virtuosität der selbstgenugsamen Phantastik. pgo_396.004 Es bewegt sich in der Region des Traumes und besitzt seine ganze pgo_396.005 Magie. Es verzaubert die Natur, läßt Thiere reden, aber nicht wie in pgo_396.006 der Fabel als allegorische Repräsentanten einer bestimmten Eigenschaft, pgo_396.007 sondern in aller bunten Frische und Freiheit der Jndividualität. Die pgo_396.008 Metamorphose ist seine Praxis, die Seelenwanderung sein Dogma. Es pgo_396.009 schwelgt in Glanz und Pracht, im feeenhaften Kolorit, im Kolossalen und pgo_396.010 Ueberraschenden, in einer hyperbolischen Wirklichkeit. Sein traumartiger pgo_396.011 Charakter schließt alles Lehrhafte, jede bestimmte Moral aus und läßt pgo_396.012 nur hier und dort eine Bedeutung, einen Sinn ahnungsvoll in seine pgo_396.013 vorüberfliehenden Erscheinungen hineinspielen. Die orientalischen Märchen pgo_396.014 sind farbenreich, die deutschen, von den Gebrüdern Grimm in den pgo_396.015 „Kinder- und Hausmärchen“ gesammelt, treuherzig und sinnig. Was pgo_396.016 die Romantiker, der Däne Andersen und andere Kunstdichter auf diesem pgo_396.017 Gebiete geleistet, welches vor Allem der schöpferischen Phantasie des Volkes pgo_396.018 überlassen bleiben muß: das enthält theils des Wirren und Tendenziösen, pgo_396.019 theils des Süßlichen und Kindischen zuviel, um, besonders wo es pgo_396.020 von der Tradition abweicht oder gänzlich neuerfindet, auf ein anderes pgo_396.021 Publikum, als das des Boudoirs, zu wirken. pgo_396.022 Die Novelle, die das Wunderbare des Märchens ausstößt, ist die pgo_396.023 kleine prosaische Erzählung einer Begebenheit, in welcher der rasche und pgo_396.024 spannende Fortgang der Situationen zu einer entscheidenden Krisis die pgo_396.025 epische Breite des Romans, seine tiefere Charakteristik und ausgeführte pgo_396.026 Seelenmalerei vertritt. Die Novelle verhält sich zum Roman, wie die pgo_396.027 poetische Erzählung zum Epos. Sie ist leichter, frischer, energischer und pgo_396.028 erinnert mehr an den rascheren Fortschritt, Scenen- und Situationswechsel pgo_396.029 und innern Zusammenhalt des Drama. Die Novelle darf nur pgo_396.030 einen Knoten schürzen und lösen; sie erfordert deshalb Erfindungsreichthum pgo_396.031 und Gewandtheit, glücklichen Griff, kühnen Wurf, ineinandergreifende pgo_396.032 Komposition. Sie soll unterhalten — es kommt nur darauf an, pgo_396.033 ob die Unterhaltung mehr oder minder geistreich ist. Gerade durch ihre pgo_396.034 größere Kürze kann die Novelle pikant und drastisch wirken, sie kann ein pgo_396.035 sinnreiches Zeit- und Lebensbild geben; sie kann aber auch blos durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/418
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/418>, abgerufen am 25.11.2024.