Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_394.001 pgo_394.029 3. Das Märchen und die Novelle. pgo_394.030 pgo_394.001 pgo_394.029 3. Das Märchen und die Novelle. pgo_394.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0416" n="394"/><lb n="pgo_394.001"/> das die Welt kaleidoskopisch zusammenschüttelt, doch bei ihm das Uebergewicht. <lb n="pgo_394.002"/> Die objektive Komik tritt in jenen realistischen Possenbildern, <lb n="pgo_394.003"/> wie sie sich in den Romanen eines <hi rendition="#g">Smollet</hi> und <hi rendition="#g">Fielding</hi> finden, noch <lb n="pgo_394.004"/> mehr aber in jener ironischen Darstellungsform hervor, welche mit der <lb n="pgo_394.005"/> Treue des naiven Epikers ernst, sorgfältig, unerschütterlich den Zusammenhang <lb n="pgo_394.006"/> von Begebenheiten erzählt, welche der Spiegel der menschlichen <lb n="pgo_394.007"/> Thorheit sind. Das unsterbliche Muster dieser Darstellungsweise ist der <lb n="pgo_394.008"/> „Don Quixote“ des <hi rendition="#g">Cervantes,</hi> dessen humoristischer Doppelstern <lb n="pgo_394.009"/> Don Quixote und Sancho Pansa für alle Zeiten den idealistischen und <lb n="pgo_394.010"/> realistischen Pol der menschlichen Thorheit repräsentirt. Auch der satyrische <lb n="pgo_394.011"/> Roman eines <hi rendition="#g">Jonathan Swift,</hi> besonders sein Hauptwerk <lb n="pgo_394.012"/> „Gulliver's Reisen,“ gehört in dies Gebiet objektiver Komik. Die burlesk-humoristischen <lb n="pgo_394.013"/> Romane eines <hi rendition="#g">Rabelais</hi> und <hi rendition="#g">Fischart</hi> wenden sich <lb n="pgo_394.014"/> bereits von der streng-epischen Darstellung ab und ergehn sich in allen <lb n="pgo_394.015"/> erdenklichen Sprüngen der Laune und des Witzes, bald phantastisch, bald <lb n="pgo_394.016"/> cynisch, mit handgreiflichen Angriffen auf einzelne Stände der Gesellschaft. <lb n="pgo_394.017"/> Dagegen nimmt der sentimentale Roman bei <hi rendition="#g">Sterne</hi> einen <lb n="pgo_394.018"/> Anlauf zu vollkommener Verflüchtigung des Epischen in die ätherischen <lb n="pgo_394.019"/> Gase eines Sentiments, das sich kaum noch um das Thatsächliche kümmert, <lb n="pgo_394.020"/> sondern nur seinen eigenen, launisch launigen, fast hysterischen <lb n="pgo_394.021"/> Anwandlungen folgt. Eine glänzende Vereinigung der satyrischen Ader <lb n="pgo_394.022"/> <hi rendition="#g">Swift's,</hi> der Sentimentalität <hi rendition="#g">Sterne's</hi> und der derben Komik <hi rendition="#g">Fielding's</hi> <lb n="pgo_394.023"/> in einem reichen, tiefen, allseitig gebildeten Genius findet sich in den <lb n="pgo_394.024"/> humoristischen Romanen <hi rendition="#g">Jean Paul's,</hi> deren Form indeß die Licenzen <lb n="pgo_394.025"/> des Humors mißbraucht und in vollkommene Styllosigkeit ausartet. Zu <lb n="pgo_394.026"/> einer mehr epischen Darstellungsweise kehrt der humoristische Roman <lb n="pgo_394.027"/> eines <hi rendition="#g">Dickens, Thackeray, Hackländer</hi> zurück, wenn auch die Ader <lb n="pgo_394.028"/> Sterne's keineswegs in diesen mehr realistischen Formen ganz versiegt ist.</p> </div> <div n="5"> <lb n="pgo_394.029"/> <head> <hi rendition="#c">3. Das Märchen und die Novelle.</hi> </head> <p><lb n="pgo_394.030"/> Aus dem Märchen, der phantastischen Novelle, bildete sich die moderne <lb n="pgo_394.031"/> Novellistik, was historisch unschwer nachzuweisen ist. Das indische Fabelbuch <lb n="pgo_394.032"/> des „Bidpai,“ die sieben weisen Meister, die <foreign xml:lang="lat">disciplina clericalis</foreign> <lb n="pgo_394.033"/> von Petrus Alfonsi, die <foreign xml:lang="lat">gesta Romanorum</foreign>, in denen arabische Märchen <lb n="pgo_394.034"/> stark vertreten waren, bildeten neben den französischen Fabliaux der Trouvères </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [394/0416]
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das die Welt kaleidoskopisch zusammenschüttelt, doch bei ihm das Uebergewicht. pgo_394.002
Die objektive Komik tritt in jenen realistischen Possenbildern, pgo_394.003
wie sie sich in den Romanen eines Smollet und Fielding finden, noch pgo_394.004
mehr aber in jener ironischen Darstellungsform hervor, welche mit der pgo_394.005
Treue des naiven Epikers ernst, sorgfältig, unerschütterlich den Zusammenhang pgo_394.006
von Begebenheiten erzählt, welche der Spiegel der menschlichen pgo_394.007
Thorheit sind. Das unsterbliche Muster dieser Darstellungsweise ist der pgo_394.008
„Don Quixote“ des Cervantes, dessen humoristischer Doppelstern pgo_394.009
Don Quixote und Sancho Pansa für alle Zeiten den idealistischen und pgo_394.010
realistischen Pol der menschlichen Thorheit repräsentirt. Auch der satyrische pgo_394.011
Roman eines Jonathan Swift, besonders sein Hauptwerk pgo_394.012
„Gulliver's Reisen,“ gehört in dies Gebiet objektiver Komik. Die burlesk-humoristischen pgo_394.013
Romane eines Rabelais und Fischart wenden sich pgo_394.014
bereits von der streng-epischen Darstellung ab und ergehn sich in allen pgo_394.015
erdenklichen Sprüngen der Laune und des Witzes, bald phantastisch, bald pgo_394.016
cynisch, mit handgreiflichen Angriffen auf einzelne Stände der Gesellschaft. pgo_394.017
Dagegen nimmt der sentimentale Roman bei Sterne einen pgo_394.018
Anlauf zu vollkommener Verflüchtigung des Epischen in die ätherischen pgo_394.019
Gase eines Sentiments, das sich kaum noch um das Thatsächliche kümmert, pgo_394.020
sondern nur seinen eigenen, launisch launigen, fast hysterischen pgo_394.021
Anwandlungen folgt. Eine glänzende Vereinigung der satyrischen Ader pgo_394.022
Swift's, der Sentimentalität Sterne's und der derben Komik Fielding's pgo_394.023
in einem reichen, tiefen, allseitig gebildeten Genius findet sich in den pgo_394.024
humoristischen Romanen Jean Paul's, deren Form indeß die Licenzen pgo_394.025
des Humors mißbraucht und in vollkommene Styllosigkeit ausartet. Zu pgo_394.026
einer mehr epischen Darstellungsweise kehrt der humoristische Roman pgo_394.027
eines Dickens, Thackeray, Hackländer zurück, wenn auch die Ader pgo_394.028
Sterne's keineswegs in diesen mehr realistischen Formen ganz versiegt ist.
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3. Das Märchen und die Novelle. pgo_394.030
Aus dem Märchen, der phantastischen Novelle, bildete sich die moderne pgo_394.031
Novellistik, was historisch unschwer nachzuweisen ist. Das indische Fabelbuch pgo_394.032
des „Bidpai,“ die sieben weisen Meister, die disciplina clericalis pgo_394.033
von Petrus Alfonsi, die gesta Romanorum, in denen arabische Märchen pgo_394.034
stark vertreten waren, bildeten neben den französischen Fabliaux der Trouvères
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