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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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darf und soll, aber zugleich ein Kulturbild geben muß. Der Weltgeist, pgo_364.002
der Geist des historischen Fortschritts, im Bewußtsein und in den Thaten pgo_364.003
der Helden lebendig, ersetzt die alte Göttermaschinerie. Eine schöne dichterische pgo_364.004
Form aber wird die Nothwendigkeit des historischen Epos und pgo_364.005
seinen Unterschied vom Roman von selbst in das klarste Licht setzen.

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2. Das romantische Epos.

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Diese freiere epische Form, welche die organische Einheit des strengern pgo_364.008
Epos zerbricht, das Historische in freie Phantasiespiele auflöst, die Volkssage pgo_364.009
durch eigene sagenhafte Erfindungen ersetzt, persönliche Geschicke an pgo_364.010
die Stelle des Weltgeschickes setzt, deren Muse nicht die göttliche Begeisterung, pgo_364.011
sondern die irdische Phantasie ist, gehört eigentlich dem Mittelalter pgo_364.012
an als üppige Blüthe aller Licenzen des Ritterthums in der Welt pgo_364.013
des Herzens und auf dem Gebiete der That. Dennoch findet ihr großes pgo_364.014
Muster Ariosto bereits im Alterthum ein glänzendes Vorbild an dem pgo_364.015
geistvollsten Dichter Roms, Ovidius Naso, der in seinen "Metamorphosen" pgo_364.016
die Abenteuer der Götter und Menschen, nicht mit Homerischer pgo_364.017
Naivetät, nicht mit gläubiger Andacht, sondern mit dem üppigen pgo_364.018
Behagen einer freispielenden Phantasie darstellte, welche in den alten pgo_364.019
Mythen einen willkommenen Stoff für bunte und lebendige Schilderungen pgo_364.020
und die Arabesken einer geistvollen Reflexion fand. Obgleich wir pgo_364.021
weder an die Götter des Alterthums, noch an die Wunder der Ritterwelt pgo_364.022
glauben: so fühlen wir uns doch bei Ovid und Ariosto vollkommener pgo_364.023
heimisch; denn diese Dichter setzen einen Glauben nicht voraus, der ihnen pgo_364.024
selbst fremd ist. Für ihre Phantasie hat die Welt keine Schranken, alle pgo_364.025
Schwere des Stoffes ist aufgehoben, die Gesetze der Kausalität sind in pgo_364.026
ihrer Märchenwelt suspendirt -- und diese Schrankenlosigkeit erweckt bei pgo_364.027
uns dasselbe Behagen, von dem jene Dichter durchdrungen sind, und das pgo_364.028
sich als ein Lächeln feiner Jronie in ihren Zügen spiegelt. Die Darstellung pgo_364.029
ist bei Ovid und Ariosto oft echt episch, aber der Eindruck, den pgo_364.030
sie hervorbringt, ist kein epischer. Das Talent dieser Dichter ist größer, pgo_364.031
als das von Virgil und Tasso; aber an die Stelle des ordnenden pgo_364.032
Kunstverstandes tritt bei ihnen das willkürliche Spiel der Phantasie. pgo_364.033
Jn den "Metamorphosen" herrscht eine eigenthümliche Seelenwanderung;

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/386>, abgerufen am 22.11.2024.