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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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die menschliche Freiheit, im Epos die Naturnothwendigkeit. Jm Drama pgo_328.002
giebt es nur einen Brennpunkt der Handlung, den Willen des Menschen; pgo_328.003
alle elementaren Mächte sind ausgelöscht, das Universum ist zur Koulisse, pgo_328.004
zur Dekoration geworden. Jm Epos handelt der Mensch als pgo_328.005
Mikrokosmus, als kleine Welt, welche die große spiegelt. Die dramatische pgo_328.006
ist ein gewaltiger Durchbruch aus der Tiefe; die epische ein stetiger pgo_328.007
Verlauf, ein organisches Wachsthum. Die dramatische Handlung ist pgo_328.008
That, die epische Begebenheit.

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Doch wenn sich das Epos nach der einen Seite scharf vom Drama pgo_328.010
unterscheidet, so drohn auf der andern seine Grenzen mit denen der Geschichtschreibung pgo_328.011
zu verschmelzen. Die Geschichte schildert den stetigen Verlauf pgo_328.012
der Ereignisse, wie sie sich unter den elementaren Einflüssen, dem Eingreifen pgo_328.013
des Zufalls, der zwingenden Nothwendigkeit zu festem Gesetze gewordener pgo_328.014
Verhältnisse gestalten. Doch das Epos ist ein Kunstwerk, welches als pgo_328.015
solches ein harmonisches Ganze sein muß. Die Handlung des Epos pgo_328.016
wird deshalb, bei aller fortschreitenden Stetigkeit, nicht in dem breiten pgo_328.017
Strom der Geschichte verschwimmen, sondern eine innere Einheit haben, pgo_328.018
minder straff, minder central, als die Einheit des Dramas, aber doch pgo_328.019
mit Grenzen, die aus seinem Wesen hervorgehn und nicht nach Belieben pgo_328.020
festgesetzt werden können. Die Handlung des Epos ist wohl elastisch pgo_328.021
und dehnbar, aber nicht zerfließend und in's Maaßlose auflösbar. Die pgo_328.022
epische Handlung ist eine, aber ein Segment aus der Geschichte, welches, pgo_328.023
trotz seiner Grenzen, die Breite des ganzen Kreises in sich aufnimmt. pgo_328.024
Die Einheit wird erreicht, wenn die epische Handlung einen bestimmten pgo_328.025
und lebendigen Zweck hat, auf den sie zwar nicht mit dramatischer pgo_328.026
Energie loseilt, der aber immer das schöne Ziel ihrer organischen Entfaltung pgo_328.027
bleibt. Dies Ziel ist gleichsam die Krone des Baumes, hoch pgo_328.028
und voll zugleich, zu welcher nicht blos der Stamm emporstrebt, sondern pgo_328.029
welche auch die zahlreichen Aeste und Zweige in schöner Rundung zu bilden pgo_328.030
suchen. Jn der That erinnert das Volksepos des Homer und der pgo_328.031
Nibelungen durch seine tiefgehenden Wurzeln, seinen starken Wuchs, seine pgo_328.032
ruhige Entfaltung, seine weitverzweigte Fülle und die liebevolle Gastlichkeit pgo_328.033
gegen alles Leben der Welt an eine majestätische Eiche. Das Ziel pgo_328.034
der Homerischen Epopöen ist von Anfang an klar! Homer schildert nicht pgo_328.035
den trojanischen Krieg, sondern nur eine bedeutsame Episode aus demselben,

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die menschliche Freiheit, im Epos die Naturnothwendigkeit. Jm Drama pgo_328.002
giebt es nur einen Brennpunkt der Handlung, den Willen des Menschen; pgo_328.003
alle elementaren Mächte sind ausgelöscht, das Universum ist zur Koulisse, pgo_328.004
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Mikrokosmus, als kleine Welt, welche die große spiegelt. Die dramatische pgo_328.006
ist ein gewaltiger Durchbruch aus der Tiefe; die epische ein stetiger pgo_328.007
Verlauf, ein organisches Wachsthum. Die dramatische Handlung ist pgo_328.008
That, die epische Begebenheit.

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Doch wenn sich das Epos nach der einen Seite scharf vom Drama pgo_328.010
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zu verschmelzen. Die Geschichte schildert den stetigen Verlauf pgo_328.012
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Nibelungen durch seine tiefgehenden Wurzeln, seinen starken Wuchs, seine pgo_328.032
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gegen alles Leben der Welt an eine majestätische Eiche. Das Ziel pgo_328.034
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[328/0350] pgo_328.001 die menschliche Freiheit, im Epos die Naturnothwendigkeit. Jm Drama pgo_328.002 giebt es nur einen Brennpunkt der Handlung, den Willen des Menschen; pgo_328.003 alle elementaren Mächte sind ausgelöscht, das Universum ist zur Koulisse, pgo_328.004 zur Dekoration geworden. Jm Epos handelt der Mensch als pgo_328.005 Mikrokosmus, als kleine Welt, welche die große spiegelt. Die dramatische pgo_328.006 ist ein gewaltiger Durchbruch aus der Tiefe; die epische ein stetiger pgo_328.007 Verlauf, ein organisches Wachsthum. Die dramatische Handlung ist pgo_328.008 That, die epische Begebenheit. pgo_328.009 Doch wenn sich das Epos nach der einen Seite scharf vom Drama pgo_328.010 unterscheidet, so drohn auf der andern seine Grenzen mit denen der Geschichtschreibung pgo_328.011 zu verschmelzen. Die Geschichte schildert den stetigen Verlauf pgo_328.012 der Ereignisse, wie sie sich unter den elementaren Einflüssen, dem Eingreifen pgo_328.013 des Zufalls, der zwingenden Nothwendigkeit zu festem Gesetze gewordener pgo_328.014 Verhältnisse gestalten. Doch das Epos ist ein Kunstwerk, welches als pgo_328.015 solches ein harmonisches Ganze sein muß. Die Handlung des Epos pgo_328.016 wird deshalb, bei aller fortschreitenden Stetigkeit, nicht in dem breiten pgo_328.017 Strom der Geschichte verschwimmen, sondern eine innere Einheit haben, pgo_328.018 minder straff, minder central, als die Einheit des Dramas, aber doch pgo_328.019 mit Grenzen, die aus seinem Wesen hervorgehn und nicht nach Belieben pgo_328.020 festgesetzt werden können. Die Handlung des Epos ist wohl elastisch pgo_328.021 und dehnbar, aber nicht zerfließend und in's Maaßlose auflösbar. Die pgo_328.022 epische Handlung ist eine, aber ein Segment aus der Geschichte, welches, pgo_328.023 trotz seiner Grenzen, die Breite des ganzen Kreises in sich aufnimmt. pgo_328.024 Die Einheit wird erreicht, wenn die epische Handlung einen bestimmten pgo_328.025 und lebendigen Zweck hat, auf den sie zwar nicht mit dramatischer pgo_328.026 Energie loseilt, der aber immer das schöne Ziel ihrer organischen Entfaltung pgo_328.027 bleibt. Dies Ziel ist gleichsam die Krone des Baumes, hoch pgo_328.028 und voll zugleich, zu welcher nicht blos der Stamm emporstrebt, sondern pgo_328.029 welche auch die zahlreichen Aeste und Zweige in schöner Rundung zu bilden pgo_328.030 suchen. Jn der That erinnert das Volksepos des Homer und der pgo_328.031 Nibelungen durch seine tiefgehenden Wurzeln, seinen starken Wuchs, seine pgo_328.032 ruhige Entfaltung, seine weitverzweigte Fülle und die liebevolle Gastlichkeit pgo_328.033 gegen alles Leben der Welt an eine majestätische Eiche. Das Ziel pgo_328.034 der Homerischen Epopöen ist von Anfang an klar! Homer schildert nicht pgo_328.035 den trojanischen Krieg, sondern nur eine bedeutsame Episode aus demselben,

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/350>, abgerufen am 22.11.2024.