Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_314.001 O rühmet immerhin mir eure lauten Feste, pgo_314.006 Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt; pgo_314.007 Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste, pgo_314.008 Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt, pgo_314.009 Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken, pgo_314.010 So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt; pgo_314.011 Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken, pgo_314.012 Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken pgo_314.013 Vielfarbig auf in's Dunkel zischt. pgo_314.014 pgo_314.020 pgo_314.001 O rühmet immerhin mir eure lauten Feste, pgo_314.006 Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt; pgo_314.007 Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste, pgo_314.008 Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt, pgo_314.009 Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken, pgo_314.010 So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt; pgo_314.011 Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken, pgo_314.012 Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken pgo_314.013 Vielfarbig auf in's Dunkel zischt. pgo_314.014 pgo_314.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0336" n="314"/> <p><lb n="pgo_314.001"/><hi rendition="#g">Flemming, Dach, Tscherning</hi> folgten seinem Beispiele, und <lb n="pgo_314.002"/> <hi rendition="#g">Emanuel Geibel</hi> bewies in seinem Gedicht: „<hi rendition="#g">Welt und Einsamkeit,</hi>“ <lb n="pgo_314.003"/> daß die moderne Reflexions-Lyrik auch den Alexandriner in dieser <lb n="pgo_314.004"/> Weise wohl verwenden kann:</p> <lb n="pgo_314.005"/> <lg> <l>O rühmet immerhin mir eure lauten Feste,</l> <lb n="pgo_314.006"/> <l>Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt;</l> <lb n="pgo_314.007"/> <l>Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste,</l> <lb n="pgo_314.008"/> <l>Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt,</l> <lb n="pgo_314.009"/> <l>Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken,</l> <lb n="pgo_314.010"/> <l>So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt;</l> <lb n="pgo_314.011"/> <l>Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken,</l> <lb n="pgo_314.012"/> <l>Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken</l> <lb n="pgo_314.013"/> <l>Vielfarbig auf in's Dunkel zischt.</l> </lg> <p><lb n="pgo_314.014"/> Die kunstvollere Gliederung der Strophe, die gegen den Schluß hin <lb n="pgo_314.015"/> im dreifachen weiblichen Reime voller austönt, um dann im vierfüßigen <lb n="pgo_314.016"/> Jambus zu erlöschen, giebt zugleich ein Beispiel, welche mannichfachen <lb n="pgo_314.017"/> Variationen strophischer Bildung der Alexandriner verträgt, und wie <lb n="pgo_314.018"/> dieser von Freiligrath bereits zu kühneren und abwechselnden Sprüngen <lb n="pgo_314.019"/> dressirte Vers ein gefügiger Träger der modernen Reflexion werden kann.</p> <p><lb n="pgo_314.020"/> Die aus dem Orient überkommenen Strophen, wie z. B. die <lb n="pgo_314.021"/> <hi rendition="#g">Ghaselen,</hi> sind zu kindlich und monoton und zwingen den Gedanken <lb n="pgo_314.022"/> unwillkürlich zu rasch wiederkehrenden Parallelismen, so daß sie sich <lb n="pgo_314.023"/> wohl zum Aufreihen einer didaktischen Perlenschnur eignen, aber den <lb n="pgo_314.024"/> freieren Flug der Schilderung und sinnigen Betrachtung lähmen. Anders <lb n="pgo_314.025"/> verhält es sich mit der melodischen Architektonik der italienischen Strophenformen, <lb n="pgo_314.026"/> des <hi rendition="#g">Sonettes</hi> und der <hi rendition="#g">Kanzone.</hi> Als Beispiele, wie vortrefflich <lb n="pgo_314.027"/> die moderne Gedankenlyrik diese romanischen Formen verwenden kann, <lb n="pgo_314.028"/> erwähnen wir Platen's Sonette auf „<hi rendition="#g">Venedig</hi>“ und Max Waldau's <lb n="pgo_314.029"/> Kanzone: „O <hi rendition="#g">diese Zeit.</hi>“ Jn beiden ist nicht nur die Form meisterhaft <lb n="pgo_314.030"/> gehandhabt, sondern auch der Ausdruck elegischer Reflexion in mustergültiger <lb n="pgo_314.031"/> Weise getroffen. Dennoch können wir diese italienischen Strophenformen <lb n="pgo_314.032"/> für größere Cyklen nicht unbedingt empfehlen, da sie auf die <lb n="pgo_314.033"/> Länge durch ihre üppige Reimfülle ermüden. Der fünffüßige Jambus, <lb n="pgo_314.034"/> in freier Reimverschlingung oder strophisch geschult, wie ihn Schiller in <lb n="pgo_314.035"/> den „Göttern Griechenlands,“ Grün im „Schutt,“ Lenau in „Glauben, <lb n="pgo_314.036"/> Wissen, Handeln“ sogar mit daktylischer Unterbrechung, Leopold Schefer </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [314/0336]
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Flemming, Dach, Tscherning folgten seinem Beispiele, und pgo_314.002
Emanuel Geibel bewies in seinem Gedicht: „Welt und Einsamkeit,“ pgo_314.003
daß die moderne Reflexions-Lyrik auch den Alexandriner in dieser pgo_314.004
Weise wohl verwenden kann:
pgo_314.005
O rühmet immerhin mir eure lauten Feste, pgo_314.006
Zu denen man geschmückt mit prächt'gen Rappen fährt; pgo_314.007
Wo stetes Lächeln kränzt die Stirnen aller Gäste, pgo_314.008
Als sei der Tod nicht mehr und jedes Leid verklärt, pgo_314.009
Wo Scherz und Lüsternheit sich ineinander ranken, pgo_314.010
So wie der üpp'ge Mohn dem Korn sich lodernd mischt; pgo_314.011
Wo Alles blitzt und sprüht, Demanten und Gedanken, pgo_314.012
Als gält's ein Feuerwerk, das vor bezahlten Schranken pgo_314.013
Vielfarbig auf in's Dunkel zischt.
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Die kunstvollere Gliederung der Strophe, die gegen den Schluß hin pgo_314.015
im dreifachen weiblichen Reime voller austönt, um dann im vierfüßigen pgo_314.016
Jambus zu erlöschen, giebt zugleich ein Beispiel, welche mannichfachen pgo_314.017
Variationen strophischer Bildung der Alexandriner verträgt, und wie pgo_314.018
dieser von Freiligrath bereits zu kühneren und abwechselnden Sprüngen pgo_314.019
dressirte Vers ein gefügiger Träger der modernen Reflexion werden kann.
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Die aus dem Orient überkommenen Strophen, wie z. B. die pgo_314.021
Ghaselen, sind zu kindlich und monoton und zwingen den Gedanken pgo_314.022
unwillkürlich zu rasch wiederkehrenden Parallelismen, so daß sie sich pgo_314.023
wohl zum Aufreihen einer didaktischen Perlenschnur eignen, aber den pgo_314.024
freieren Flug der Schilderung und sinnigen Betrachtung lähmen. Anders pgo_314.025
verhält es sich mit der melodischen Architektonik der italienischen Strophenformen, pgo_314.026
des Sonettes und der Kanzone. Als Beispiele, wie vortrefflich pgo_314.027
die moderne Gedankenlyrik diese romanischen Formen verwenden kann, pgo_314.028
erwähnen wir Platen's Sonette auf „Venedig“ und Max Waldau's pgo_314.029
Kanzone: „O diese Zeit.“ Jn beiden ist nicht nur die Form meisterhaft pgo_314.030
gehandhabt, sondern auch der Ausdruck elegischer Reflexion in mustergültiger pgo_314.031
Weise getroffen. Dennoch können wir diese italienischen Strophenformen pgo_314.032
für größere Cyklen nicht unbedingt empfehlen, da sie auf die pgo_314.033
Länge durch ihre üppige Reimfülle ermüden. Der fünffüßige Jambus, pgo_314.034
in freier Reimverschlingung oder strophisch geschult, wie ihn Schiller in pgo_314.035
den „Göttern Griechenlands,“ Grün im „Schutt,“ Lenau in „Glauben, pgo_314.036
Wissen, Handeln“ sogar mit daktylischer Unterbrechung, Leopold Schefer
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