Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_313.001 Auf dieser wüsten Stätt', in dieser stillen Heide, pgo_313.034
Da Niemand innen wohnt, als nur der Westenwind, pgo_313.035 Da kann ich ungescheut genug thun meinem Leide, pgo_313.036 Wo auch die Steine nur still und verschwiegen sind. pgo_313.001 Auf dieser wüsten Stätt', in dieser stillen Heide, pgo_313.034
Da Niemand innen wohnt, als nur der Westenwind, pgo_313.035 Da kann ich ungescheut genug thun meinem Leide, pgo_313.036 Wo auch die Steine nur still und verschwiegen sind. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0335" n="313"/><lb n="pgo_313.001"/> ist, aber in einem harmonischen Fluß und Guß bleibt, ohne zu den kühnen <lb n="pgo_313.002"/> abgerissenen Wendungen und Sätzen der Ode zu greifen, bleibt für die <lb n="pgo_313.003"/> ganze Gattung mustergültig. Ein allzureicher Bilderschmuck, wie wir <lb n="pgo_313.004"/> ihn bei <hi rendition="#g">Grün, Lenau</hi> und <hi rendition="#g">Beck</hi> finden, mag überhaupt hin und wieder <lb n="pgo_313.005"/> gegen den geläuterten Geschmack verstoßen; aber in unserer Gattung <lb n="pgo_313.006"/> nicht mehr, als in jeder andern. Jn Bezug auf die geeignete <hi rendition="#g">metrische <lb n="pgo_313.007"/> Form</hi> haben wir schon bemerkt, daß die <hi rendition="#g">Elegie</hi> der Alten einem bestimmten <lb n="pgo_313.008"/> Versmaaß ihren Namen verdankt. Dies Versmaaß, das Distichon, <lb n="pgo_313.009"/> stellt zugleich an sich selbst die Emancipation der Lyrik von der Epik dar, <lb n="pgo_313.010"/> indem hier zuerst der stolze, epische Sechsfüßler, eines Fußes beraubt, in <lb n="pgo_313.011"/> der fünffüßigen Zeile gleichsam wehmüthig erlischt. Gleichzeitig sehn wir <lb n="pgo_313.012"/> im Distichon die erste noch schüchterne Form <hi rendition="#g">strophischer</hi> Bildung. <lb n="pgo_313.013"/> Die ganze klassische Elegie und ihre Nachdichtungen, Goethe's „römische <lb n="pgo_313.014"/> Elegieen“ und Schiller's „Spaziergang“ sind in diesem Versmaaß gedichtet, <lb n="pgo_313.015"/> das in der That für die Vereinigung von Schilderung und Reflexion <lb n="pgo_313.016"/> mustergültig erscheint. Der Genius der deutschen Sprache aber verlangt <lb n="pgo_313.017"/> zum vollen <hi rendition="#g">lyrischen</hi> Ausdruck den <hi rendition="#g">Reim</hi> — und deshalb möchten wir <lb n="pgo_313.018"/> den Dichtern der Gegenwart das <hi rendition="#g">Distichon</hi> nicht empfehlen. Gerade <lb n="pgo_313.019"/> durch den <hi rendition="#g">Reim</hi> und die Strophenbildung, die von seinen Verschlingungen <lb n="pgo_313.020"/> abhängig ist, sind der modernen Lyrik andere Mittel geboten, die <lb n="pgo_313.021"/> Rückkehr des sinnenden Gemüthes in sich selbst auch in der äußeren Dichtform <lb n="pgo_313.022"/> abzuspiegeln. Es kommt nur darauf an, das Charakteristische der <lb n="pgo_313.023"/> elegischen Versform, das Horaz sehr treffend bezeichnet, wenn er von <lb n="pgo_313.024"/> „<foreign xml:lang="lat">versibus <hi rendition="#g">impariter</hi> iunctis</foreign>“ spricht, auch in der modernen Versbildung <lb n="pgo_313.025"/> auszudrücken. Dies hatte schon der Altmeister unserer neuen <lb n="pgo_313.026"/> Poesie, <hi rendition="#g">Martin Opitz,</hi> eingesehn und deshalb statt der langen zwölf- <lb n="pgo_313.027"/> und dreizehnsylbigen Verse mit ungetrennten Reimen, welche noch der <lb n="pgo_313.028"/> alte französische Elegiker E. <hi rendition="#g">Desportes</hi> und nach ihm die französische <lb n="pgo_313.029"/> Elegie überhaupt angewendet, seine Elegieen in Alexandrinern mit weiblicher <lb n="pgo_313.030"/> und männlicher Endung und getrennten Reimen geschrieben und <lb n="pgo_313.031"/> auch in dieser Form die siebzehnte Elegie des ersten Buches von <lb n="pgo_313.032"/> Properz übersetzt:</p> <lb n="pgo_313.033"/> <lg> <l>Auf dieser wüsten Stätt', in dieser stillen Heide,</l> <lb n="pgo_313.034"/> <l>Da Niemand innen wohnt, als nur der Westenwind,</l> <lb n="pgo_313.035"/> <l>Da kann ich ungescheut genug thun meinem Leide,</l> <lb n="pgo_313.036"/> <l>Wo auch die Steine nur still und verschwiegen sind.</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [313/0335]
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ist, aber in einem harmonischen Fluß und Guß bleibt, ohne zu den kühnen pgo_313.002
abgerissenen Wendungen und Sätzen der Ode zu greifen, bleibt für die pgo_313.003
ganze Gattung mustergültig. Ein allzureicher Bilderschmuck, wie wir pgo_313.004
ihn bei Grün, Lenau und Beck finden, mag überhaupt hin und wieder pgo_313.005
gegen den geläuterten Geschmack verstoßen; aber in unserer Gattung pgo_313.006
nicht mehr, als in jeder andern. Jn Bezug auf die geeignete metrische pgo_313.007
Form haben wir schon bemerkt, daß die Elegie der Alten einem bestimmten pgo_313.008
Versmaaß ihren Namen verdankt. Dies Versmaaß, das Distichon, pgo_313.009
stellt zugleich an sich selbst die Emancipation der Lyrik von der Epik dar, pgo_313.010
indem hier zuerst der stolze, epische Sechsfüßler, eines Fußes beraubt, in pgo_313.011
der fünffüßigen Zeile gleichsam wehmüthig erlischt. Gleichzeitig sehn wir pgo_313.012
im Distichon die erste noch schüchterne Form strophischer Bildung. pgo_313.013
Die ganze klassische Elegie und ihre Nachdichtungen, Goethe's „römische pgo_313.014
Elegieen“ und Schiller's „Spaziergang“ sind in diesem Versmaaß gedichtet, pgo_313.015
das in der That für die Vereinigung von Schilderung und Reflexion pgo_313.016
mustergültig erscheint. Der Genius der deutschen Sprache aber verlangt pgo_313.017
zum vollen lyrischen Ausdruck den Reim — und deshalb möchten wir pgo_313.018
den Dichtern der Gegenwart das Distichon nicht empfehlen. Gerade pgo_313.019
durch den Reim und die Strophenbildung, die von seinen Verschlingungen pgo_313.020
abhängig ist, sind der modernen Lyrik andere Mittel geboten, die pgo_313.021
Rückkehr des sinnenden Gemüthes in sich selbst auch in der äußeren Dichtform pgo_313.022
abzuspiegeln. Es kommt nur darauf an, das Charakteristische der pgo_313.023
elegischen Versform, das Horaz sehr treffend bezeichnet, wenn er von pgo_313.024
„versibus impariter iunctis“ spricht, auch in der modernen Versbildung pgo_313.025
auszudrücken. Dies hatte schon der Altmeister unserer neuen pgo_313.026
Poesie, Martin Opitz, eingesehn und deshalb statt der langen zwölf- pgo_313.027
und dreizehnsylbigen Verse mit ungetrennten Reimen, welche noch der pgo_313.028
alte französische Elegiker E. Desportes und nach ihm die französische pgo_313.029
Elegie überhaupt angewendet, seine Elegieen in Alexandrinern mit weiblicher pgo_313.030
und männlicher Endung und getrennten Reimen geschrieben und pgo_313.031
auch in dieser Form die siebzehnte Elegie des ersten Buches von pgo_313.032
Properz übersetzt:
pgo_313.033
Auf dieser wüsten Stätt', in dieser stillen Heide, pgo_313.034
Da Niemand innen wohnt, als nur der Westenwind, pgo_313.035
Da kann ich ungescheut genug thun meinem Leide, pgo_313.036
Wo auch die Steine nur still und verschwiegen sind.
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