Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_307.001
tion
aus, mag dies nun eine Lage des Gemüthes oder ein Verhältniß pgo_307.002
der äußern Welt sein, wie in den Delia-Elegieen des Tibull sein Kriegszug, pgo_307.003
seine Erkrankung, die Studienreise des Properz nach Athen, pgo_307.004
Schiller's "Spaziergang," Meißner's Wanderung in's Gebirg nach pgo_307.005
einer "Zeit der Schmerzen;" aber es handelt sich in der Elegie nicht, wie pgo_307.006
im Liede, darum, diese eine Situation in einem einzigen Akkord der pgo_307.007
Stimmung aufgehn zu lassen, sondern sie ist nur der Ausgangspunkt für pgo_307.008
eine Reihe anderer, welche sich ungezwungen an sie anschließen. Deshalb pgo_307.009
läßt sich auch für die äußerliche Ausdehnung der Elegie keine Grenze pgo_307.010
ziehn; die römischen Musterelegieen des Tibull, Properz und Ovid bilden pgo_307.011
sogar meistens einen größeren Cyklus, in dessen umfassende Gliederung pgo_307.012
sich die einzelnen Elegieen kunstmäßig einreihn. Aehnliche umfangreiche pgo_307.013
Elegieen der Neuzeit sind z. B. die Todtenkränze von Zedlitz und pgo_307.014
der Schutt von Anastasius Grün.

pgo_307.015
Zur Erläuterung der elegischen Komposition wählen wir zwei Muster pgo_307.016
aus der alten und neuen Zeit. Die dritte Elegie des ersten Buches von pgo_307.017
Tibull:

pgo_307.018
Ohne mich, Messala, durchschifft ihr ägäische Meerfluth, pgo_307.019
Bliebet ihr meiner doch du und die Deinen gedenk!

pgo_307.020
wird von Otto Gruppe, der sich um die sinnvolle Anordnung und kritische pgo_307.021
Sichtung der römischen Elegiker große Verdienste erworben, in pgo_307.022
folgender Weise erläutert*): "Hier ist kein einfacher Fortgang, sondern in pgo_307.023
reichem Wechsel geht der Gedanke von Scene zu Scene. Eine wirkliche pgo_307.024
Situation liegt zu Grunde: der Dichter erkrankte unterwegs, als er pgo_307.025
Messala nach Aegypten begleiten wollte, und mußte auf der Jnsel Korcyra pgo_307.026
zurückbleiben. Dies setzen die ersten Verse sogleich in's Licht, wo er pgo_307.027
bedauert, dem Messala nicht folgen zu können, und den Tod noch um pgo_307.028
Schonung bittet. Der sehr naheliegende Gedanke, daß ihm hier die pgo_307.029
Mutter, die Schwester und Delia zur Bestattung fehle, führt sogleich auf pgo_307.030
das elegische Gebiet, und die Bilder des Abschiedes von Rom und der pgo_307.031
gesuchten Zögerung treten mit großer Lebendigkeit entgegen. Ein ferneres pgo_307.032
Tableau giebt der mit leichten Zügen hingestellte Jsisdienst der Delia pgo_307.033
und die Schilderung, wie die Geliebte der Göttin die Herstellung des

*) pgo_307.034
Die römische Elegie Bd. I. p. 11.

pgo_307.001
tion
aus, mag dies nun eine Lage des Gemüthes oder ein Verhältniß pgo_307.002
der äußern Welt sein, wie in den Delia-Elegieen des Tibull sein Kriegszug, pgo_307.003
seine Erkrankung, die Studienreise des Properz nach Athen, pgo_307.004
Schiller's „Spaziergang,“ Meißner's Wanderung in's Gebirg nach pgo_307.005
einer „Zeit der Schmerzen;“ aber es handelt sich in der Elegie nicht, wie pgo_307.006
im Liede, darum, diese eine Situation in einem einzigen Akkord der pgo_307.007
Stimmung aufgehn zu lassen, sondern sie ist nur der Ausgangspunkt für pgo_307.008
eine Reihe anderer, welche sich ungezwungen an sie anschließen. Deshalb pgo_307.009
läßt sich auch für die äußerliche Ausdehnung der Elegie keine Grenze pgo_307.010
ziehn; die römischen Musterelegieen des Tibull, Properz und Ovid bilden pgo_307.011
sogar meistens einen größeren Cyklus, in dessen umfassende Gliederung pgo_307.012
sich die einzelnen Elegieen kunstmäßig einreihn. Aehnliche umfangreiche pgo_307.013
Elegieen der Neuzeit sind z. B. die Todtenkränze von Zedlitz und pgo_307.014
der Schutt von Anastasius Grün.

pgo_307.015
Zur Erläuterung der elegischen Komposition wählen wir zwei Muster pgo_307.016
aus der alten und neuen Zeit. Die dritte Elegie des ersten Buches von pgo_307.017
Tibull:

pgo_307.018
Ohne mich, Messala, durchschifft ihr ägäische Meerfluth, pgo_307.019
Bliebet ihr meiner doch du und die Deinen gedenk!

pgo_307.020
wird von Otto Gruppe, der sich um die sinnvolle Anordnung und kritische pgo_307.021
Sichtung der römischen Elegiker große Verdienste erworben, in pgo_307.022
folgender Weise erläutert*): „Hier ist kein einfacher Fortgang, sondern in pgo_307.023
reichem Wechsel geht der Gedanke von Scene zu Scene. Eine wirkliche pgo_307.024
Situation liegt zu Grunde: der Dichter erkrankte unterwegs, als er pgo_307.025
Messala nach Aegypten begleiten wollte, und mußte auf der Jnsel Korcyra pgo_307.026
zurückbleiben. Dies setzen die ersten Verse sogleich in's Licht, wo er pgo_307.027
bedauert, dem Messala nicht folgen zu können, und den Tod noch um pgo_307.028
Schonung bittet. Der sehr naheliegende Gedanke, daß ihm hier die pgo_307.029
Mutter, die Schwester und Delia zur Bestattung fehle, führt sogleich auf pgo_307.030
das elegische Gebiet, und die Bilder des Abschiedes von Rom und der pgo_307.031
gesuchten Zögerung treten mit großer Lebendigkeit entgegen. Ein ferneres pgo_307.032
Tableau giebt der mit leichten Zügen hingestellte Jsisdienst der Delia pgo_307.033
und die Schilderung, wie die Geliebte der Göttin die Herstellung des

*) pgo_307.034
Die römische Elegie Bd. I. p. 11.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0329" n="307"/><lb n="pgo_307.001"/>
tion</hi> aus, mag dies nun eine Lage des Gemüthes oder ein Verhältniß <lb n="pgo_307.002"/>
der äußern Welt sein, wie in den Delia-Elegieen des Tibull sein Kriegszug, <lb n="pgo_307.003"/>
seine Erkrankung, die Studienreise des Properz nach Athen, <lb n="pgo_307.004"/>
Schiller's &#x201E;Spaziergang,&#x201C; Meißner's Wanderung in's Gebirg nach <lb n="pgo_307.005"/>
einer &#x201E;Zeit der Schmerzen;&#x201C; aber es handelt sich in der Elegie nicht, wie <lb n="pgo_307.006"/>
im Liede, darum, diese eine Situation in einem einzigen Akkord der <lb n="pgo_307.007"/>
Stimmung aufgehn zu lassen, sondern sie ist nur der Ausgangspunkt für <lb n="pgo_307.008"/>
eine Reihe anderer, welche sich ungezwungen an sie anschließen. Deshalb <lb n="pgo_307.009"/>
läßt sich auch für die äußerliche Ausdehnung der Elegie keine Grenze <lb n="pgo_307.010"/>
ziehn; die römischen Musterelegieen des Tibull, Properz und Ovid bilden <lb n="pgo_307.011"/>
sogar meistens einen größeren Cyklus, in dessen umfassende Gliederung <lb n="pgo_307.012"/>
sich die einzelnen Elegieen kunstmäßig einreihn. Aehnliche umfangreiche <lb n="pgo_307.013"/>
Elegieen der Neuzeit sind z. B. die <hi rendition="#g">Todtenkränze</hi> von <hi rendition="#g">Zedlitz</hi> und <lb n="pgo_307.014"/>
der <hi rendition="#g">Schutt</hi> von <hi rendition="#g">Anastasius Grün.</hi></p>
              <p><lb n="pgo_307.015"/>
Zur Erläuterung der elegischen Komposition wählen wir zwei Muster <lb n="pgo_307.016"/>
aus der alten und neuen Zeit. Die dritte Elegie des ersten Buches von <lb n="pgo_307.017"/>
Tibull:</p>
              <lb n="pgo_307.018"/>
              <lg>
                <l>Ohne mich, Messala, durchschifft ihr ägäische Meerfluth,</l>
                <lb n="pgo_307.019"/>
                <l>Bliebet ihr meiner doch du und die Deinen gedenk!</l>
              </lg>
              <p><lb n="pgo_307.020"/>
wird von <hi rendition="#g">Otto Gruppe,</hi> der sich um die sinnvolle Anordnung und kritische <lb n="pgo_307.021"/>
Sichtung der römischen Elegiker große Verdienste erworben, in <lb n="pgo_307.022"/>
folgender Weise erläutert<note xml:id="PGO_307_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_307.034"/>
Die römische Elegie Bd. I. p. 11.</note>: &#x201E;Hier ist kein einfacher Fortgang, sondern in <lb n="pgo_307.023"/>
reichem Wechsel geht der Gedanke von Scene zu Scene. Eine wirkliche <lb n="pgo_307.024"/>
Situation liegt zu Grunde: der Dichter erkrankte unterwegs, als er <lb n="pgo_307.025"/>
Messala nach Aegypten begleiten wollte, und mußte auf der Jnsel Korcyra <lb n="pgo_307.026"/>
zurückbleiben. Dies setzen die ersten Verse sogleich in's Licht, wo er <lb n="pgo_307.027"/>
bedauert, dem Messala nicht folgen zu können, und den Tod noch um <lb n="pgo_307.028"/>
Schonung bittet. Der sehr naheliegende Gedanke, daß ihm hier die <lb n="pgo_307.029"/>
Mutter, die Schwester und Delia zur Bestattung fehle, führt sogleich auf <lb n="pgo_307.030"/>
das elegische Gebiet, und die Bilder des Abschiedes von Rom und der <lb n="pgo_307.031"/>
gesuchten Zögerung treten mit großer Lebendigkeit entgegen. Ein ferneres <lb n="pgo_307.032"/>
Tableau giebt der mit leichten Zügen hingestellte Jsisdienst der Delia <lb n="pgo_307.033"/>
und die Schilderung, wie die Geliebte der Göttin die Herstellung des
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0329] pgo_307.001 tion aus, mag dies nun eine Lage des Gemüthes oder ein Verhältniß pgo_307.002 der äußern Welt sein, wie in den Delia-Elegieen des Tibull sein Kriegszug, pgo_307.003 seine Erkrankung, die Studienreise des Properz nach Athen, pgo_307.004 Schiller's „Spaziergang,“ Meißner's Wanderung in's Gebirg nach pgo_307.005 einer „Zeit der Schmerzen;“ aber es handelt sich in der Elegie nicht, wie pgo_307.006 im Liede, darum, diese eine Situation in einem einzigen Akkord der pgo_307.007 Stimmung aufgehn zu lassen, sondern sie ist nur der Ausgangspunkt für pgo_307.008 eine Reihe anderer, welche sich ungezwungen an sie anschließen. Deshalb pgo_307.009 läßt sich auch für die äußerliche Ausdehnung der Elegie keine Grenze pgo_307.010 ziehn; die römischen Musterelegieen des Tibull, Properz und Ovid bilden pgo_307.011 sogar meistens einen größeren Cyklus, in dessen umfassende Gliederung pgo_307.012 sich die einzelnen Elegieen kunstmäßig einreihn. Aehnliche umfangreiche pgo_307.013 Elegieen der Neuzeit sind z. B. die Todtenkränze von Zedlitz und pgo_307.014 der Schutt von Anastasius Grün. pgo_307.015 Zur Erläuterung der elegischen Komposition wählen wir zwei Muster pgo_307.016 aus der alten und neuen Zeit. Die dritte Elegie des ersten Buches von pgo_307.017 Tibull: pgo_307.018 Ohne mich, Messala, durchschifft ihr ägäische Meerfluth, pgo_307.019 Bliebet ihr meiner doch du und die Deinen gedenk! pgo_307.020 wird von Otto Gruppe, der sich um die sinnvolle Anordnung und kritische pgo_307.021 Sichtung der römischen Elegiker große Verdienste erworben, in pgo_307.022 folgender Weise erläutert *): „Hier ist kein einfacher Fortgang, sondern in pgo_307.023 reichem Wechsel geht der Gedanke von Scene zu Scene. Eine wirkliche pgo_307.024 Situation liegt zu Grunde: der Dichter erkrankte unterwegs, als er pgo_307.025 Messala nach Aegypten begleiten wollte, und mußte auf der Jnsel Korcyra pgo_307.026 zurückbleiben. Dies setzen die ersten Verse sogleich in's Licht, wo er pgo_307.027 bedauert, dem Messala nicht folgen zu können, und den Tod noch um pgo_307.028 Schonung bittet. Der sehr naheliegende Gedanke, daß ihm hier die pgo_307.029 Mutter, die Schwester und Delia zur Bestattung fehle, führt sogleich auf pgo_307.030 das elegische Gebiet, und die Bilder des Abschiedes von Rom und der pgo_307.031 gesuchten Zögerung treten mit großer Lebendigkeit entgegen. Ein ferneres pgo_307.032 Tableau giebt der mit leichten Zügen hingestellte Jsisdienst der Delia pgo_307.033 und die Schilderung, wie die Geliebte der Göttin die Herstellung des *) pgo_307.034 Die römische Elegie Bd. I. p. 11.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/329
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/329>, abgerufen am 24.11.2024.