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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Theognis! Welch' wehmüthiger Rückblick auf die Tapferkeit der alten pgo_305.002
Smyrnäer, welche reizende, aber gerade durch die Ahnungen der Vergänglichkeit pgo_305.003
anmuthig gefärbte Feier der Jugend und Schönheit findet pgo_305.004
sich in den Elegieen des Mimnermos! Tibull geht in einer seiner pgo_305.005
kunstvollsten Dichtungen von den Schrecken des Krieges aus und mischt pgo_305.006
so in die Schlußfeier des Friedens einen elegischen Hauch*).

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Wer zuerst zu Tage gebracht die schrecklichen Schwerter, pgo_305.008
Wild im Busen führwahr schlug ihm ein eisernes Herz. pgo_305.009
Da begann den Menschen der Mord und die Schlachten begannen, pgo_305.010
Und ein kürzerer Weg wurde geöffnet dem Tod.

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Wie mischt sich im Liebesroman seiner Delia mit aller Freude über pgo_305.012
verbotenen Genuß die leise Klage darüber, daß der volle gesicherte Besitz pgo_305.013
der Geliebten ihm fehlt. Wie wandelt sich selbst bei dem kühneren Properz pgo_305.014
die glückliche Liebe in eine unglückliche um! Wir erinnern nicht pgo_305.015
an Petrarca's Sonette, an viele Kanzonen der Troubadours -- die pgo_305.016
ganze reiche Gedankenpoesie der Neuzeit verleugnet jenen Grundzug der pgo_305.017
Stimmung nicht. Die römischen Elegieen Goethe's sind dem Tibull und pgo_305.018
Properz nachgedichtet und erhalten dadurch ihren Reiz, daß die Liebe des pgo_305.019
Dichters, selbst vergänglich und flüchtig, unter den Trümmern einer pgo_305.020
großen Vergangenheit dahingaukelt. Jn den "Göttern Griechenlands" pgo_305.021
von Schiller, den "Jdealen" und ähnlichen Gedichten unseres größten pgo_305.022
Reflexionspoeten läßt die Sehnsucht nach einer versunkenen Phantasiewelt pgo_305.023
oder nach der innigen Vermählung des Gedankens und der Wirklichkeit pgo_305.024
den Schmerz der nüchternen Gegenwart um so tiefer empfinden. pgo_305.025
Jm "Schutt" von Anastasius Grün rankt sich die Wehmuth des Dichters pgo_305.026
noch um die alten Thürme und Klöster; das europäische Mittelalter singt pgo_305.027
sein Schwanenlied; aber in seine Ruinen weht der frische Hauch über den pgo_305.028
Ocean herüber aus der neuen Welt! Nikolaus Lenau klagt um das pgo_305.029
verlorene Paradies des Glaubens oder um verlorenes Liebesglück; pgo_305.030
Alfred Meißner in seinen "Trümmern" um das Weh der Armen, pgo_305.031
der Enterbten, der ganzen Menschheit! So ist der Grundzug der pgo_305.032
Reflexionspoeten allerdings durch die Vergänglichkeit des Jrdischen pgo_305.033
bestimmt. Die Stimmung des elegischen Dichters ist ein den Erscheinungen

*) pgo_305.034
lib. I. 3. nach Gruppe.

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Reflexionspoeten allerdings durch die Vergänglichkeit des Jrdischen pgo_305.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/327>, abgerufen am 24.11.2024.