pgo_302.001 in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff pgo_302.002 der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden pgo_302.003 Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren pgo_302.004 lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, pgo_302.005 als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender pgo_302.006 Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten pgo_302.007 Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge pgo_302.008 zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn.
pgo_302.009
Vierter Abschnitt.
pgo_302.010 Die Lyrik der Reflexion: die Elegie.
pgo_302.011 Der lyrische Dichter kann nicht blos der Empfindung im Liedpgo_302.012 einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit pgo_302.013 schwunghafter Begeisterung große Gedanken und kühne Bilder im pgo_302.014 Flug der Ode erhaschen -- er kann auch sein Denken und Empfinden pgo_302.015 in einer Kette zusammenhängender Bilder ausspinnen. Während das pgo_302.016 Lied und die Ode eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, pgo_302.017 um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des pgo_302.018 schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die Elegiepgo_302.019 in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden pgo_302.020 Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen pgo_302.021 lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört pgo_302.022 zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen pgo_302.023 Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, pgo_302.024 als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung pgo_302.025 vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen pgo_302.026 durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik pgo_302.027 gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, pgo_302.028 daß wir den Ausdruck: Elegie, dem gewöhnlich eine engere Bedeutung pgo_302.029 gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen pgo_302.030 Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.
pgo_302.031 Das griechische Wort: Elegos (elegos) bedeutet allerdings zunächst
pgo_302.001 in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff pgo_302.002 der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden pgo_302.003 Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren pgo_302.004 lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, pgo_302.005 als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender pgo_302.006 Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten pgo_302.007 Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge pgo_302.008 zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn.
pgo_302.009
Vierter Abschnitt.
pgo_302.010 Die Lyrik der Reflexion: die Elegie.
pgo_302.011 Der lyrische Dichter kann nicht blos der Empfindung im Liedpgo_302.012 einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit pgo_302.013 schwunghafter Begeisterung große Gedanken und kühne Bilder im pgo_302.014 Flug der Ode erhaschen — er kann auch sein Denken und Empfinden pgo_302.015 in einer Kette zusammenhängender Bilder ausspinnen. Während das pgo_302.016 Lied und die Ode eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, pgo_302.017 um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des pgo_302.018 schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die Elegiepgo_302.019 in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden pgo_302.020 Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen pgo_302.021 lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört pgo_302.022 zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen pgo_302.023 Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, pgo_302.024 als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung pgo_302.025 vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen pgo_302.026 durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik pgo_302.027 gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, pgo_302.028 daß wir den Ausdruck: Elegie, dem gewöhnlich eine engere Bedeutung pgo_302.029 gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen pgo_302.030 Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.
pgo_302.031 Das griechische Wort: Elegos (ἔλεγος) bedeutet allerdings zunächst
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0324"n="302"/><lbn="pgo_302.001"/>
in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff <lbn="pgo_302.002"/>
der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden <lbn="pgo_302.003"/>
Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren <lbn="pgo_302.004"/>
lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, <lbn="pgo_302.005"/>
als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender <lbn="pgo_302.006"/>
Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten <lbn="pgo_302.007"/>
Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge <lbn="pgo_302.008"/>
zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn. </p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div><divn="4"><lbn="pgo_302.009"/><head><hirendition="#c">Vierter Abschnitt.</hi></head><lbn="pgo_302.010"/><head><hirendition="#c">Die Lyrik der Reflexion: die Elegie.</hi></head><p><lbn="pgo_302.011"/>
Der lyrische Dichter kann nicht blos der <hirendition="#g">Empfindung</hi> im <hirendition="#g">Lied</hi><lbn="pgo_302.012"/>
einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit <lbn="pgo_302.013"/>
schwunghafter <hirendition="#g">Begeisterung</hi> große Gedanken und kühne Bilder im <lbn="pgo_302.014"/>
Flug der <hirendition="#g">Ode erhaschen</hi>— er kann auch sein Denken und Empfinden <lbn="pgo_302.015"/>
in einer Kette zusammenhängender Bilder <hirendition="#g">ausspinnen.</hi> Während das <lbn="pgo_302.016"/><hirendition="#g">Lied</hi> und die <hirendition="#g">Ode</hi> eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, <lbn="pgo_302.017"/>
um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des <lbn="pgo_302.018"/>
schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die <hirendition="#g">Elegie</hi><lbn="pgo_302.019"/>
in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden <lbn="pgo_302.020"/>
Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen <lbn="pgo_302.021"/>
lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört <lbn="pgo_302.022"/>
zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen <lbn="pgo_302.023"/>
Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, <lbn="pgo_302.024"/>
als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung <lbn="pgo_302.025"/>
vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen <lbn="pgo_302.026"/>
durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik <lbn="pgo_302.027"/>
gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, <lbn="pgo_302.028"/>
daß wir den Ausdruck: <hirendition="#g">Elegie,</hi> dem gewöhnlich eine engere Bedeutung <lbn="pgo_302.029"/>
gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen <lbn="pgo_302.030"/>
Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.</p><p><lbn="pgo_302.031"/>
Das griechische Wort: <hirendition="#g">Elegos</hi> (<foreignxml:lang="grc">ἔλεγος</foreign>) bedeutet allerdings zunächst
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[302/0324]
pgo_302.001
in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff pgo_302.002
der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden pgo_302.003
Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren pgo_302.004
lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, pgo_302.005
als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender pgo_302.006
Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten pgo_302.007
Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge pgo_302.008
zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn.
pgo_302.009
Vierter Abschnitt. pgo_302.010
Die Lyrik der Reflexion: die Elegie. pgo_302.011
Der lyrische Dichter kann nicht blos der Empfindung im Lied pgo_302.012
einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit pgo_302.013
schwunghafter Begeisterung große Gedanken und kühne Bilder im pgo_302.014
Flug der Ode erhaschen — er kann auch sein Denken und Empfinden pgo_302.015
in einer Kette zusammenhängender Bilder ausspinnen. Während das pgo_302.016
Lied und die Ode eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, pgo_302.017
um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des pgo_302.018
schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die Elegie pgo_302.019
in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden pgo_302.020
Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen pgo_302.021
lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört pgo_302.022
zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen pgo_302.023
Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, pgo_302.024
als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung pgo_302.025
vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen pgo_302.026
durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik pgo_302.027
gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, pgo_302.028
daß wir den Ausdruck: Elegie, dem gewöhnlich eine engere Bedeutung pgo_302.029
gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen pgo_302.030
Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.
pgo_302.031
Das griechische Wort: Elegos (ἔλεγος) bedeutet allerdings zunächst
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/324>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.