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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Zeitgenossen, anders bei Horaz, der dem weinlaubbekränzten Gott in pgo_301.002
seine süßen Gefahren folgt! Diese Dichter sangen aus dem Glauben und pgo_301.003
den Sitten ihres Volkes, aus seinem unmittelbaren Leben heraus! Doch pgo_301.004
gerade die Dithyrambe ist solch' einer Wiedergeburt aus dem Geiste pgo_301.005
unserer Zeit fähig. Der aufjauchzende Vollgenuß irdischer Wonne ist ein pgo_301.006
unsterbliches Erbtheil der Menschen und übt eine befreiende Kraft auf pgo_301.007
alle stumpfen, sorgengedrückten Gemüther. Es ist freilich ein großer pgo_301.008
Schritt von der gedankenlosen Bestialität in Auerbach's Keller zu Heinse's pgo_301.009
schönheittrunkenen römischen Orgien. Die Trunkenheit eines großen pgo_301.010
Gemüthes ist niemals gedankenleer; der von Bacchus gewaltsam fortgerissene pgo_301.011
Horaz sinnt ein unsterbliches Lied auf Cäsar's Ruhm, das nichts pgo_301.012
Gemeines, Sterbliches, das bisher nie Gesungenes enthalte! Stumpfe pgo_301.013
Gemüther, deren Sinnlichkeit sich brutal vordrängt, sind überhaupt von pgo_301.014
der Schwelle der Dichtkunst zurückzuweisen. Sind nicht Goethe's pgo_301.015
"Wanderer's Sturmlied" und "Harzreise im Winter" Dithyramben? pgo_301.016
Hat Heine nicht in seinem Bremer Rathskeller eine humoristische Dithyrambe pgo_301.017
gedichtet? Jch selbst habe in meiner "Dithyrambe" eine gedankenvolle pgo_301.018
Trunkenheit in freiwogenden Rhythmen durch den wachsenden pgo_301.019
Rausch begleitet. Wir meinen, das dithyrambische Thema lasse für pgo_301.020
unsere Zeit die größten Variationen zu, und wenn schon Schiller in seiner pgo_301.021
antikisirenden Dithyrambe singt:

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Nimmer, das glaubt mir, pgo_301.023
Erscheinen die Götter, pgo_301.024
Nimmer allein. pgo_301.025
Kaum daß ich Bachus, den Lustigen habe, pgo_301.026
Kömmt auch schon Amor, der lächelnde Knabe, pgo_301.027
Phöbus der Herrliche findet sich ein;

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so brauchen wir blos diesen Götterkreis in den Kreis der modernen pgo_301.029
Lebensmächte zu verwandeln, um den reichen Jnhalt zu erkennen, dessen pgo_301.030
die Dithyrambe fähig ist. Von der übermüthigen Stimmung jener pgo_301.031
Ungebundenheit, welche ihre Sache auf Nichts gestellt hat, durch alle heiß pgo_301.032
lodernde Begeisterung des Weines und der Liebe hindurch bis zu jenem pgo_301.033
geistvollen Taumel, in dessen Gährung höhere Blitze der Offenbarung pgo_301.034
herniederleuchten -- welch' eine Skala von Stimmungen, Empfindungen, pgo_301.035
Gedanken für ein reiches Dichtergemüth, das sich ja schon anundfürsich

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/323>, abgerufen am 24.11.2024.