pgo_296.001 selbst die Verzweiflungspsalmen der Skepsis, wie Shelley in seiner pgo_296.002 "Queen Mab" sie anstimmt, gehören in ihren Kreis, weil das Gemüth pgo_296.003 selbst in gebrochenster Sehnsucht nach dem Höchsten aufringt.
pgo_296.004 Die schönsten Hymnen enthält die Hebräische Poesie. Jehova, der pgo_296.005 Höchste, der Allmächtige, der zürnende Gott wird gefeiert in seiner erhabenen pgo_296.006 Majestät als Schöpfer der Welt. Alle großen Phänomene der pgo_296.007 Natur sind seine Thaten! Er fliegt einher auf den Fittigen des Sturmes; pgo_296.008 er neigt die Himmel und fährt herab; seinem Mund entströmt verzehrende pgo_296.009 Gluth in der Wetter Schlag. Zugleich ist er der Gott seines pgo_296.010 Volkes; alle diese religiösen Hymnen sind die höchsten patriotischen pgo_296.011 Weihegesänge. Das Wesen dieser hebräischen Poesie hat Herder mit pgo_296.012 unvergleichlicher Feinfühligkeit für das charakteristisch Schöne und mit pgo_296.013 meisterhafter Reproduktion der großen Muster ein für allemal auseinandergesetzt. pgo_296.014 Der alttestamentliche Prometheus "Hiob" ist der Urahn pgo_296.015 jener modernen Shelley'schen Skepsis; im Buche Hiob sind die kühnsten, pgo_296.016 gedankenvollsten Hymnen der Hebräer enthalten, deren reiche und glänzende pgo_296.017 Bildlichkeit oft einen grandiösen Schwung nimmt. Die Fackel pgo_296.018 eines majestätischen Geistes erleuchtet das All bis in seine tiefsten pgo_296.019 Abgründe und erlischt zuletzt vor der größeren Glorie und Majestät des pgo_296.020 Jehova. Von den Propheten ist Jesaias der Erhabenste; er schreibt den pgo_296.021 Lapidarstyl der Hymne mit großen und ewigen Zügen. Gewitterhaft ist pgo_296.022 sein Zorn, zermalmend sein Hohn, z. B. wenn er Jehova's Strafgericht pgo_296.023 über die Babylonier und Assyrer schildert (14. Kapitel).
pgo_296.024
Hinabgebeugt zu den Todten ist dein Stolz,pgo_296.025 Hinunter deiner Harfe Siegeston;pgo_296.026 Der Moder deine Decke.pgo_296.027 Dein Bett ist unter dir der Wurm,pgo_296.028 Wie bist du gefallen vom Himmel, du Morgenstern!
pgo_296.029
(Nach Herder.)
pgo_296.030 Diese Parallelismen des Jesaias haben eine zerschmetternde Kraft! pgo_296.031 Sanfter tönen die Psalmen Davids, sie sind subjektiver, aus dem persönlichen pgo_296.032 Geschick herausgeboren, Gebete um Errettung, Trostlieder im pgo_296.033 Leiden, Dankeshymnen, Preisgesänge auf den Schöpfer der Natur und pgo_296.034 auf jenes Glück, das zu Antium keinen Tempel hatte, auf das Glück pgo_296.035 der Tugendhaften. Bei allen milden, weichen Klängen der Ergebung pgo_296.036 und manchen höchst anmuthigen und lieblichen Schilderungen, an denen
pgo_296.001 selbst die Verzweiflungspsalmen der Skepsis, wie Shelley in seiner pgo_296.002 „Queen Mab“ sie anstimmt, gehören in ihren Kreis, weil das Gemüth pgo_296.003 selbst in gebrochenster Sehnsucht nach dem Höchsten aufringt.
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Hinabgebeugt zu den Todten ist dein Stolz,pgo_296.025 Hinunter deiner Harfe Siegeston;pgo_296.026 Der Moder deine Decke.pgo_296.027 Dein Bett ist unter dir der Wurm,pgo_296.028 Wie bist du gefallen vom Himmel, du Morgenstern!
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(Nach Herder.)
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/318>, abgerufen am 23.07.2024.
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