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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Rhythmen geht dieser Ehre verlustig! Kann doch die Kunstlyrik heutzutage pgo_284.002
"wahrhaft volksthümliche Lieder" aufweisen, so daß jener höhere pgo_284.003
Standpunkt der hellenischen Kultur, der die unwahre Trennung zwischen pgo_284.004
Volks- und Kunstpoesie nicht kennt, wenigstens im Einzelnen erreicht ist. pgo_284.005
Anakreon mit seinen leicht flatternden Liederchen, den reizenden Devisen pgo_284.006
Amors, wie sie in Deutschland am besten Leopold Schefer und pgo_284.007
Wilhelm Müller nachgeahmt, war gewiß ein griechischer Volkspoet, pgo_284.008
nicht minder Catull im liederarmen Rom. Rouget de Lisle mit pgo_284.009
seiner Revolutionshymne hat die Heere der Republik und des Kaiserreiches pgo_284.010
elektrisirt, während Schiller durch sein "Reiterlied," Körner, pgo_284.011
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den Ausdruck der nationalen Stimmung wunderbar trafen und pgo_284.012
in allen Bivouaks der Befreiungskriege mit Begeisterung gesungen wurden. pgo_284.013
Ja steht nicht in neuer Zeit Beranger als der echt französische pgo_284.014
Volkspoet da, der alle Seiten der Nation von der leichtfertigsten Lebenslust pgo_284.015
bis zum höchsten Aufschwung des aufbrausenden Enthusiasmus in pgo_284.016
in seinen Chansons spiegelt? Alle seine Lieder sind echt französischer pgo_284.017
Champagner! Und solch' ein einzelner Dichter, welcher die Verkörperung pgo_284.018
seiner Nation ist, der ihre Eigenthümlichkeiten in seinem Talent koncentrirt, pgo_284.019
vertritt das Volkslied besser, als alle aufgespeicherten Schätze pgo_284.020
namenloser Volksdichtung!

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Wir verkennen nicht, daß das höhere Lied aus dem Volksliede hervorgegangen, pgo_284.022
daß es eigentlich dem Alterthum und dem Orient unbekannt, pgo_284.023
ein Ausfluß christlich-germanischer Jnnigkeit ist. Die Griechen pgo_284.024
und Römer waren in ihrer Lyrik theils zu plastisch, theils zu reflektirend; pgo_284.025
die Orientalen zu bilderprunkend, lehr- und spruchreich. Dagegen spricht pgo_284.026
in den anglo-normannischen, altfranzösischen und mittelenglischen "Lais*)" pgo_284.027
sich bereits jener innige sangbare Charakter aus, der noch mehr im deutschen pgo_284.028
Volksliede hervortrat. Die Lieder der Minnesänger und Troubadours pgo_284.029
enthielten ebensoviel Süßliches, wie Zartes, Spielendes, wie pgo_284.030
Sinniges; die Liederkost des Meistersanges war roh, derb und für das pgo_284.031
Handwerkerthum schmackhaft. Seit Opitz und Flemming die deutsche

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Vgl.: Ueber die Lais, Seqenzen und Leiche von Ferdinand Wolf. pgo_284.033
Heidelberg. 1841.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/306>, abgerufen am 23.11.2024.