Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_280.001 Sein' Augen stehn voll Thränen, pgo_280.002 Der Schaum läuft von den Zähnen, pgo_280.003 Die Mähne steigt empor. pgo_280.004 Er sucht, er ruft, er brüllet, pgo_280.005 Daß Lybien erschüllet, pgo_280.006 Und sich entsetzt davor: pgo_280.007 So rühren sich die Schmerzen pgo_280.008 Jn Deinem Vater-Herzen pgo_280.009 Jngleichen, mein Clandrin! pgo_280.010 pgo_280.016 _ _ _ _ | _ _ _ _ | pgo_280.024 _ _ _ _ | _ _ _ _ | pgo_280.028 _ _ _ _ | _ _ _ _ pgo_280.032 pgo_280.033 pgo_280.001 Sein' Augen stehn voll Thränen, pgo_280.002 Der Schaum läuft von den Zähnen, pgo_280.003 Die Mähne steigt empor. pgo_280.004 Er sucht, er ruft, er brüllet, pgo_280.005 Daß Lybien erschüllet, pgo_280.006 Und sich entsetzt davor: pgo_280.007 So rühren sich die Schmerzen pgo_280.008 Jn Deinem Vater-Herzen pgo_280.009 Jngleichen, mein Clandrin! pgo_280.010 pgo_280.016 ‿ ‿ _ _ | ‿ ‿ _ _ | pgo_280.024 ‿ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ _ | pgo_280.028 _ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ pgo_280.032 pgo_280.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0302" n="280"/> <lb n="pgo_280.001"/> <lg> <l>Sein' Augen stehn voll Thränen,</l> <lb n="pgo_280.002"/> <l>Der Schaum läuft von den Zähnen,</l> <lb n="pgo_280.003"/> <l>Die Mähne steigt empor.</l> <lb n="pgo_280.004"/> <l>Er sucht, er ruft, er brüllet,</l> <lb n="pgo_280.005"/> <l>Daß Lybien erschüllet,</l> <lb n="pgo_280.006"/> <l>Und sich entsetzt davor: </l> </lg> <lg> <lb n="pgo_280.007"/> <l>So rühren sich die Schmerzen</l> <lb n="pgo_280.008"/> <l>Jn Deinem Vater-Herzen</l> <lb n="pgo_280.009"/> <l>Jngleichen, mein Clandrin!</l> </lg> <p><lb n="pgo_280.010"/> Abgesehen von der Geschmacklosigkeit des Bildes, das an dieser <lb n="pgo_280.011"/> Stelle ebenso passend ist, wie ein marmorner Löwe als Grabdenkmal <lb n="pgo_280.012"/> eines Kindes, zerstört die epische Ausführung, welche die Phantasie bei <lb n="pgo_280.013"/> einer Fülle von einzelnen Merkmalen haften läßt und sie von der Leiche <lb n="pgo_280.014"/> eines Kindes bis in die lybische Wüste versetzt, vollkommen die Einheit <lb n="pgo_280.015"/> der lyrischen Stimmung.</p> <p><lb n="pgo_280.016"/> Was die <hi rendition="#g">metrische Form</hi> des Liedes betrifft, so waltet auch hier <lb n="pgo_280.017"/> der Charakter größter Einfachheit. Kurzathmige Rhythmen von wenig <lb n="pgo_280.018"/> Füßen, kurze Strophen, am liebsten vierzeilig, keine kunstvoll verschlungenen, <lb n="pgo_280.019"/> aber durch die Kürze der Zeilen rasch sich folgende Reime bestimmen <lb n="pgo_280.020"/> ihn. <hi rendition="#g">Lieder ohne Reim</hi> sind in deutscher Sprache wirklich ungereimt <lb n="pgo_280.021"/> zu nennen. Schon <hi rendition="#g">Anakreon</hi> ließ seine leichtgeflügelten Amoretten <lb n="pgo_280.022"/> sich nach dem Takte des jambischen Dimeters bewegen:</p> <lb n="pgo_280.023"/> <p> <hi rendition="#right">‿ ‿ _ _ | ‿ ‿ _ _ |</hi> </p> <p><lb n="pgo_280.024"/> einen kurzathmigen, hastigen Rhythmus, dessen heftigen Anprall er dadurch <lb n="pgo_280.025"/> mäßigte, daß er die letzte Länge des ersten Jonikus in eine Kürze, die <lb n="pgo_280.026"/> erste Kürze des zweiten in eine Länge verwandelte:</p> <lb n="pgo_280.027"/> <p> <hi rendition="#right">‿ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ _ |</hi> </p> <p><lb n="pgo_280.028"/> Durch diese Umbiegung (Anaklase) erhielt der kurze Vers einen <lb n="pgo_280.029"/> weicheren Gang, der ihn zum Träger der Liebesempfindung geschickt <lb n="pgo_280.030"/> machte. Ueber das Maaß einer trochäischen und jambischen Dipodie:</p> <lb n="pgo_280.031"/> <p> <hi rendition="#right">_ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ <lb n="pgo_280.032"/> oder: ‿ _ ‿ _ | ‿ _ ‿ _</hi> </p> <p><lb n="pgo_280.033"/> sollte das Metrum des Liedes nicht hinausgehn. Jn der That sind die <lb n="pgo_280.034"/> meisten Lieder <hi rendition="#g">Goethe's, Uhland's, Geibel's, Lenau's, Wilhelm <lb n="pgo_280.035"/> Müller's, Eichendorff's, Hoffmann's von Fallersleben</hi> <lb n="pgo_280.036"/> in diesen Dipodien geschrieben, welche freilich durch den Wechsel </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [280/0302]
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Sein' Augen stehn voll Thränen, pgo_280.002
Der Schaum läuft von den Zähnen, pgo_280.003
Die Mähne steigt empor. pgo_280.004
Er sucht, er ruft, er brüllet, pgo_280.005
Daß Lybien erschüllet, pgo_280.006
Und sich entsetzt davor:
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So rühren sich die Schmerzen pgo_280.008
Jn Deinem Vater-Herzen pgo_280.009
Jngleichen, mein Clandrin!
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Abgesehen von der Geschmacklosigkeit des Bildes, das an dieser pgo_280.011
Stelle ebenso passend ist, wie ein marmorner Löwe als Grabdenkmal pgo_280.012
eines Kindes, zerstört die epische Ausführung, welche die Phantasie bei pgo_280.013
einer Fülle von einzelnen Merkmalen haften läßt und sie von der Leiche pgo_280.014
eines Kindes bis in die lybische Wüste versetzt, vollkommen die Einheit pgo_280.015
der lyrischen Stimmung.
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Was die metrische Form des Liedes betrifft, so waltet auch hier pgo_280.017
der Charakter größter Einfachheit. Kurzathmige Rhythmen von wenig pgo_280.018
Füßen, kurze Strophen, am liebsten vierzeilig, keine kunstvoll verschlungenen, pgo_280.019
aber durch die Kürze der Zeilen rasch sich folgende Reime bestimmen pgo_280.020
ihn. Lieder ohne Reim sind in deutscher Sprache wirklich ungereimt pgo_280.021
zu nennen. Schon Anakreon ließ seine leichtgeflügelten Amoretten pgo_280.022
sich nach dem Takte des jambischen Dimeters bewegen:
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‿ ‿ _ _ | ‿ ‿ _ _ |
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einen kurzathmigen, hastigen Rhythmus, dessen heftigen Anprall er dadurch pgo_280.025
mäßigte, daß er die letzte Länge des ersten Jonikus in eine Kürze, die pgo_280.026
erste Kürze des zweiten in eine Länge verwandelte:
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‿ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ _ |
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Durch diese Umbiegung (Anaklase) erhielt der kurze Vers einen pgo_280.029
weicheren Gang, der ihn zum Träger der Liebesempfindung geschickt pgo_280.030
machte. Ueber das Maaß einer trochäischen und jambischen Dipodie:
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_ ‿ _ ‿ | _ ‿ _ ‿ pgo_280.032
oder: ‿ _ ‿ _ | ‿ _ ‿ _
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sollte das Metrum des Liedes nicht hinausgehn. Jn der That sind die pgo_280.034
meisten Lieder Goethe's, Uhland's, Geibel's, Lenau's, Wilhelm pgo_280.035
Müller's, Eichendorff's, Hoffmann's von Fallersleben pgo_280.036
in diesen Dipodien geschrieben, welche freilich durch den Wechsel
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