Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_279.001 So wie ein edler Leue pgo_279.032
Sich mit gerechter Reue pgo_279.033 Sehnt nach der jungen Zucht, pgo_279.034 Die man ihm aufgefangen, pgo_279.035 Jndem er ist gegangen pgo_279.036 Und Speise hat gesucht. pgo_279.001 So wie ein edler Leue pgo_279.032
Sich mit gerechter Reue pgo_279.033 Sehnt nach der jungen Zucht, pgo_279.034 Die man ihm aufgefangen, pgo_279.035 Jndem er ist gegangen pgo_279.036 Und Speise hat gesucht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0301" n="279"/> <p><lb n="pgo_279.001"/> Die orientalische Lyrik erhält durch die Ueberfülle der Metaphern <lb n="pgo_279.002"/> einen dem Charakter des Liedes fremden reflektirenden Beigeschmack. <lb n="pgo_279.003"/> Eine durchgängige, mit Bildern spielende Symbolik verwischt diesen <lb n="pgo_279.004"/> Charakter, wie z. B. in <hi rendition="#g">Geibel's</hi> Gedicht: „ich bin die Rose auf der <lb n="pgo_279.005"/> Au,“ wo der Dichter sich selbst mit der Rose, dem Edelstein, einem <lb n="pgo_279.006"/> krystallnen Becher, einer trüben Wolkenwand, dem Memnon in der Wüste, <lb n="pgo_279.007"/> und die Liebe mit dem Thau, dem Sonnenschein, dem Wein, dem Regenbogen, <lb n="pgo_279.008"/> dem Morgenroth, der Reihe nach vergleicht. So verdirbt sich <lb n="pgo_279.009"/> <hi rendition="#g">Anastasius Grün</hi> in den „Blättern der Liebe“ fortwährend durch <lb n="pgo_279.010"/> spielende Spitzfindigkeiten des Bilderwitzes den Charakter des Liedes. <lb n="pgo_279.011"/> Auch <hi rendition="#g">Schiller</hi> hat seinen Ton nie getroffen. Darin störte ihn zwar <lb n="pgo_279.012"/> nicht allzureicher Bilderschmuck, wohl aber eine etwas nackte Logik, die <lb n="pgo_279.013"/> da, wo er Einfaches einfach besingen wollte, hervortrat. Man achte nur <lb n="pgo_279.014"/> in seinem „<hi rendition="#g">Punschlied</hi>“ auf die vielen „aber, doch, d'rum,“ welche die <lb n="pgo_279.015"/> Strophen logisch-nüchtern verbinden und dem Ganzen eine breite und <lb n="pgo_279.016"/> unwillkommene Deutlichkeit geben. Da traf Goethe das Richtige, der <lb n="pgo_279.017"/> nicht nur diese doktrinairen Partikeln in Liede beseitigte, sondern auch <lb n="pgo_279.018"/> durch Fortlassung der Pronomina bei der Anrede den traulichen, unmittelbaren <lb n="pgo_279.019"/> Ton der Empfindung verstärkte: „Füllest wieder Busch und Thal,“ <lb n="pgo_279.020"/> und: „Blüthet ach! dem Hoffnungslosen.“ Das Lied verträgt sogar <lb n="pgo_279.021"/> vollkommen naive Wendungen, wie z. B. mich ergreift <hi rendition="#g">ich weiß nicht <lb n="pgo_279.022"/> wie</hi> (Goethe) oder: du feuchter Frühlingsabend, <hi rendition="#g">wie hab' ich dich so <lb n="pgo_279.023"/> gern</hi> (Geibel). Wohl kann es Lieder geben, die ganz in <hi rendition="#g">einer</hi> Metapher <lb n="pgo_279.024"/> ruhn, wie die Perle in der Muschel, wie z. B. das Heine'sche: „Sag' wo <lb n="pgo_279.025"/> ist dein schönes Liebchen?“ — dann darf aber kein neues Bild die Einheit <lb n="pgo_279.026"/> stören. Am verfehltesten sind im Liede ausgeführte Gleichnisse, welche <lb n="pgo_279.027"/> sich ganz von der Gemüthswelt und ihrer träumerischen Beleuchtung loslösen. <lb n="pgo_279.028"/> Ein recht schlagendes Beispiel dafür giebt unser dichterischer Altmeister <lb n="pgo_279.029"/> <hi rendition="#g">Martin Opitz,</hi> der ein Trauerlied auf „den Tod eines Kindes“ <lb n="pgo_279.030"/> mit folgender Homerischen Vergleichung beginnt:</p> <lb n="pgo_279.031"/> <lg> <l>So wie ein edler Leue</l> <lb n="pgo_279.032"/> <l>Sich mit gerechter Reue</l> <lb n="pgo_279.033"/> <l>Sehnt nach der jungen Zucht,</l> <lb n="pgo_279.034"/> <l>Die man ihm aufgefangen,</l> <lb n="pgo_279.035"/> <l>Jndem er ist gegangen</l> <lb n="pgo_279.036"/> <l>Und Speise hat gesucht.</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [279/0301]
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Die orientalische Lyrik erhält durch die Ueberfülle der Metaphern pgo_279.002
einen dem Charakter des Liedes fremden reflektirenden Beigeschmack. pgo_279.003
Eine durchgängige, mit Bildern spielende Symbolik verwischt diesen pgo_279.004
Charakter, wie z. B. in Geibel's Gedicht: „ich bin die Rose auf der pgo_279.005
Au,“ wo der Dichter sich selbst mit der Rose, dem Edelstein, einem pgo_279.006
krystallnen Becher, einer trüben Wolkenwand, dem Memnon in der Wüste, pgo_279.007
und die Liebe mit dem Thau, dem Sonnenschein, dem Wein, dem Regenbogen, pgo_279.008
dem Morgenroth, der Reihe nach vergleicht. So verdirbt sich pgo_279.009
Anastasius Grün in den „Blättern der Liebe“ fortwährend durch pgo_279.010
spielende Spitzfindigkeiten des Bilderwitzes den Charakter des Liedes. pgo_279.011
Auch Schiller hat seinen Ton nie getroffen. Darin störte ihn zwar pgo_279.012
nicht allzureicher Bilderschmuck, wohl aber eine etwas nackte Logik, die pgo_279.013
da, wo er Einfaches einfach besingen wollte, hervortrat. Man achte nur pgo_279.014
in seinem „Punschlied“ auf die vielen „aber, doch, d'rum,“ welche die pgo_279.015
Strophen logisch-nüchtern verbinden und dem Ganzen eine breite und pgo_279.016
unwillkommene Deutlichkeit geben. Da traf Goethe das Richtige, der pgo_279.017
nicht nur diese doktrinairen Partikeln in Liede beseitigte, sondern auch pgo_279.018
durch Fortlassung der Pronomina bei der Anrede den traulichen, unmittelbaren pgo_279.019
Ton der Empfindung verstärkte: „Füllest wieder Busch und Thal,“ pgo_279.020
und: „Blüthet ach! dem Hoffnungslosen.“ Das Lied verträgt sogar pgo_279.021
vollkommen naive Wendungen, wie z. B. mich ergreift ich weiß nicht pgo_279.022
wie (Goethe) oder: du feuchter Frühlingsabend, wie hab' ich dich so pgo_279.023
gern (Geibel). Wohl kann es Lieder geben, die ganz in einer Metapher pgo_279.024
ruhn, wie die Perle in der Muschel, wie z. B. das Heine'sche: „Sag' wo pgo_279.025
ist dein schönes Liebchen?“ — dann darf aber kein neues Bild die Einheit pgo_279.026
stören. Am verfehltesten sind im Liede ausgeführte Gleichnisse, welche pgo_279.027
sich ganz von der Gemüthswelt und ihrer träumerischen Beleuchtung loslösen. pgo_279.028
Ein recht schlagendes Beispiel dafür giebt unser dichterischer Altmeister pgo_279.029
Martin Opitz, der ein Trauerlied auf „den Tod eines Kindes“ pgo_279.030
mit folgender Homerischen Vergleichung beginnt:
pgo_279.031
So wie ein edler Leue pgo_279.032
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Und Speise hat gesucht.
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