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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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aber ihn deshalb mit Vischer*) überhaupt einen größeren Lyriker zu pgo_273.002
nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz pgo_273.003
es wäre, Anakreon als "Lyriker" über Pindar, Catull über pgo_273.004
Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel pgo_273.005
richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung pgo_273.006
seine gebührende Stelle einräumt**).

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Der Grundton der Stimmung läßt im Liede keine kühnen Ausweichungen pgo_273.008
zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die pgo_273.009
Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar, pgo_273.010
aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im Liede auf den Grund pgo_273.011
der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben. pgo_273.012
Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen pgo_273.013
träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu pgo_273.014
seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der pgo_273.015
realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein pgo_273.016
äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet pgo_273.017
nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen pgo_273.018
des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen pgo_273.019
Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht pgo_273.020
der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die pgo_273.021
Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern -- pgo_273.022
das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters pgo_273.023
besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel pgo_273.024
gleich in seine Stimmung zu versetzen.

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Füllest wieder Busch und Thal pgo_273.026
Still mit Nebelglanz, pgo_273.027
Lösest endlich auch einmal pgo_273.028
Meine Seele ganz. --

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Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar pgo_273.030
gefangen nehmen.

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Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr pgo_273.032
schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende "Blumenflur"

*) pgo_273.033
Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
**) pgo_273.034
Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141.

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Füllest wieder Busch und Thal pgo_273.026
Still mit Nebelglanz, pgo_273.027
Lösest endlich auch einmal pgo_273.028
Meine Seele ganz. —

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Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar pgo_273.030
gefangen nehmen.

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Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr pgo_273.032
schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende „Blumenflur“

*) pgo_273.033
Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/295>, abgerufen am 25.11.2024.