pgo_273.001 aber ihn deshalb mit Vischer*) überhaupt einen größeren Lyriker zu pgo_273.002 nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz pgo_273.003 es wäre, Anakreon als "Lyriker" über Pindar, Catull über pgo_273.004 Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel pgo_273.005 richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung pgo_273.006 seine gebührende Stelle einräumt**).
pgo_273.007 Der Grundton der Stimmung läßt im Liede keine kühnen Ausweichungen pgo_273.008 zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die pgo_273.009 Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar, pgo_273.010 aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im Liede auf den Grund pgo_273.011 der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben. pgo_273.012 Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen pgo_273.013 träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu pgo_273.014 seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der pgo_273.015 realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein pgo_273.016 äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet pgo_273.017 nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen pgo_273.018 des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen pgo_273.019 Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht pgo_273.020 der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die pgo_273.021 Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern -- pgo_273.022 das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters pgo_273.023 besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel pgo_273.024 gleich in seine Stimmung zu versetzen.
pgo_273.025
Füllest wieder Busch und Thalpgo_273.026 Still mit Nebelglanz,pgo_273.027 Lösest endlich auch einmalpgo_273.028 Meine Seele ganz. --
pgo_273.029 Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar pgo_273.030 gefangen nehmen.
pgo_273.031 Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr pgo_273.032 schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende "Blumenflur"
*)pgo_273.033 Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
**)pgo_273.034 Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141.
pgo_273.001 aber ihn deshalb mit Vischer*) überhaupt einen größeren Lyriker zu pgo_273.002 nennen, das zeugt doch von einer bedenklichen Einseitigkeit, deren Konsequenz pgo_273.003 es wäre, Anakreon als „Lyriker“ über Pindar, Catull über pgo_273.004 Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel pgo_273.005 richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung pgo_273.006 seine gebührende Stelle einräumt**).
pgo_273.007 Der Grundton der Stimmung läßt im Liede keine kühnen Ausweichungen pgo_273.008 zu; er verlangt einen harmonischen, vollen Akkord. Die pgo_273.009 Empfindung wird mit aller Wärme und Jnnigkeit festgehalten und klar, pgo_273.010 aber ohne Schärfe ausgesprochen. Wir wollen im Liede auf den Grund pgo_273.011 der Seele sehn; aber ein durchsichtiger Schleier muß noch darüber schweben. pgo_273.012 Das erst giebt dem Liede seinen eigenthümlichen Duft, seinen pgo_273.013 träumerischen Reiz. Das Ahnungsvolle, halb Ausgesprochene gehört zu pgo_273.014 seinem Wesen. Jede scharfe Bestimmtheit, alles Eckige und Kantige der pgo_273.015 realen Welt würde diesen duftigen Schleier zerreißen. Wohl kann ein pgo_273.016 äußerer Gegenstand die Empfindung anregen; aber diese Anregung entbindet pgo_273.017 nur ihre eigenste Kraft; das Objekt verschwindet in den Schwingungen pgo_273.018 des Subjekts. Die Bilder im Liede gleichen den Chladnischen pgo_273.019 Klangfiguren, sie haben keinen eigenen Werth, sie verkünden nur die Macht pgo_273.020 der Töne und ihre Verschiedenheit, die Vibrationen der Seele. Die pgo_273.021 Empfindung, die von Bild zu Bild schweifte, würde sich zersplittern — pgo_273.022 das Lied bedarf einer koncentrirten Einheit. Die Kunst des Liederdichters pgo_273.023 besteht darin, uns mit dem geringsten Aufwande künstlerischer Mittel pgo_273.024 gleich in seine Stimmung zu versetzen.
pgo_273.025
Füllest wieder Busch und Thalpgo_273.026 Still mit Nebelglanz,pgo_273.027 Lösest endlich auch einmalpgo_273.028 Meine Seele ganz. —
pgo_273.029 Das sind meisterhafte lyrische Abbreviaturen, die unsere Seele unmittelbar pgo_273.030 gefangen nehmen.
pgo_273.031 Der Jnhalt des Liedes ist sehr reich und mannichfaltig. Sehr pgo_273.032 schön hat Hegel die Liederdichtung eine sich stets erneuende „Blumenflur“
*)pgo_273.033 Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
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aber ihn deshalb mit Vischer *) überhaupt einen größeren Lyriker zu pgo_273.002
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es wäre, Anakreon als „Lyriker“ über Pindar, Catull über pgo_273.004
Horaz und Ovid, und Burns über Byron zu setzen. Wie viel pgo_273.005
richtiger ist die Auffassung Hegel's, welcher dem Liede ohne Ueberschätzung pgo_273.006
seine gebührende Stelle einräumt **).
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Aesthetik Bd. 3 p. 1352.
**) pgo_273.034
Aesthetik Bd. 3, S. 460 u. folg. und S. 141.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/295>, abgerufen am 23.07.2024.
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