Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_271.001 Eintheilung der Lyrik. pgo_271.032 pgo_271.001 Eintheilung der Lyrik. pgo_271.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0293" n="271"/><lb n="pgo_271.001"/> mögen, so ist ihr Jnhalt doch kein fremdartiger und gesuchter, sondern es <lb n="pgo_271.002"/> sind meistens hervorragende Zeitgenossen, deren Bild er in diesen antiken <lb n="pgo_271.003"/> Rahmen spannt. Wir brauchen blos an <hi rendition="#g">Byron</hi> und <hi rendition="#g">Shelley,</hi> an <lb n="pgo_271.004"/> <hi rendition="#g">Béranger</hi> und <hi rendition="#g">Victor Hugo,</hi> an <hi rendition="#g">Puschkin</hi> und <hi rendition="#g">Mickiewitz</hi> zu <lb n="pgo_271.005"/> erinnern, um zu zeigen, daß der richtige Jnstinkt die Dichter der andern <lb n="pgo_271.006"/> Nationen auf die Bahn der <hi rendition="#g">modernen</hi> Lyrik geleitet. Wir verbinden <lb n="pgo_271.007"/> mit dem Begriffe des <hi rendition="#g">Modernen</hi> durchaus keine jungdeutsche, an das <lb n="pgo_271.008"/> Modische anstreifende Nebenbedeutung, sondern wir verstehn unter <lb n="pgo_271.009"/> <hi rendition="#g">moderner</hi> Lyrik nur eine solche, die aus dem Bewußtsein, aus den <lb n="pgo_271.010"/> Jnteressen, aus dem Gefühl der Gegenwart heraus und gerade deshalb <lb n="pgo_271.011"/> für die Zukunft dichtet, eine Lyrik, die für unsere Zeit ganz dieselbe Bedeutung <lb n="pgo_271.012"/> hat, wie die antike für das Alterthum, wie der Troubadour- und <lb n="pgo_271.013"/> Minnegesang für das Mittelalter. Der Vorwurf der <hi rendition="#g">Tendenz</hi> kann <lb n="pgo_271.014"/> nur solche lyrische Gedichte treffen, in denen ein äußerlicher Zweck nackt, <lb n="pgo_271.015"/> ohne künstlerische Verhüllung, zu Tage liegt. Ein Dichter, der sich im <lb n="pgo_271.016"/> Leben der Gegenwart umgesehn, ihre bewegenden Jdeen und materiellen <lb n="pgo_271.017"/> Mächte kennen gelernt: der wird sein ursprüngliches Talent frisch in den <lb n="pgo_271.018"/> Strom der Zeit untertauchen, in ihrem Geiste, mit ihr, durch sie und für <lb n="pgo_271.019"/> sie dichten. Denn der dichterische Funke entzündet sich vorzugsweise an <lb n="pgo_271.020"/> den Berührungen des Lebens — das individuelle Leben aber ist in das <lb n="pgo_271.021"/> große Netz der Kultur unlöslich eingefangen. Der Dilettantismus, der <lb n="pgo_271.022"/> dies leugnet, geräth auch noch auf andere Abwege. Er verläßt den <lb n="pgo_271.023"/> Standpunkt der <hi rendition="#g">Bildung,</hi> den er einnimmt, um, wie er sagt, zum Volk <lb n="pgo_271.024"/> herabzusteigen; er dichtet in „volksthümlicher Weise“ mit Nachahmung <lb n="pgo_271.025"/> aller unartikulirten Naturlaute; er trällert <hi rendition="#g">Volkslieder</hi> heraus, die nur <lb n="pgo_271.026"/> als Jmprovisationen des Volksgeistes einen kulturgeschichtlichen Werth <lb n="pgo_271.027"/> haben. Dies „Volk“ ist meistens eine Abstraktion der Studirstuben; der <lb n="pgo_271.028"/> Dichter kennt kein anderes „Volk“ als die Nation. Nicht <hi rendition="#g">Arnim</hi> und <lb n="pgo_271.029"/> <hi rendition="#g">Brentano,</hi> sondern <hi rendition="#g">Schiller</hi> und <hi rendition="#g">Körner</hi> sind echte Volksdichter der <lb n="pgo_271.030"/> Deutschen.</p> <lb n="pgo_271.031"/> <div n="5"> <head> <hi rendition="#c">Eintheilung der Lyrik.</hi> </head> <p><lb n="pgo_271.032"/> Wenn wir die Lyrik in ihre einzelnen Gattungen verfolgen wollen: so <lb n="pgo_271.033"/> bietet sich uns folgende Eintheilung dar, die wir aus dem Verhalten des <lb n="pgo_271.034"/> dichtenden Subjektes zu seinem Objekte herleiten. Entweder bleibt der <lb n="pgo_271.035"/> Dichter ganz auf dem Boden der Empfindung stehn, in deren koncentrirte </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [271/0293]
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mögen, so ist ihr Jnhalt doch kein fremdartiger und gesuchter, sondern es pgo_271.002
sind meistens hervorragende Zeitgenossen, deren Bild er in diesen antiken pgo_271.003
Rahmen spannt. Wir brauchen blos an Byron und Shelley, an pgo_271.004
Béranger und Victor Hugo, an Puschkin und Mickiewitz zu pgo_271.005
erinnern, um zu zeigen, daß der richtige Jnstinkt die Dichter der andern pgo_271.006
Nationen auf die Bahn der modernen Lyrik geleitet. Wir verbinden pgo_271.007
mit dem Begriffe des Modernen durchaus keine jungdeutsche, an das pgo_271.008
Modische anstreifende Nebenbedeutung, sondern wir verstehn unter pgo_271.009
moderner Lyrik nur eine solche, die aus dem Bewußtsein, aus den pgo_271.010
Jnteressen, aus dem Gefühl der Gegenwart heraus und gerade deshalb pgo_271.011
für die Zukunft dichtet, eine Lyrik, die für unsere Zeit ganz dieselbe Bedeutung pgo_271.012
hat, wie die antike für das Alterthum, wie der Troubadour- und pgo_271.013
Minnegesang für das Mittelalter. Der Vorwurf der Tendenz kann pgo_271.014
nur solche lyrische Gedichte treffen, in denen ein äußerlicher Zweck nackt, pgo_271.015
ohne künstlerische Verhüllung, zu Tage liegt. Ein Dichter, der sich im pgo_271.016
Leben der Gegenwart umgesehn, ihre bewegenden Jdeen und materiellen pgo_271.017
Mächte kennen gelernt: der wird sein ursprüngliches Talent frisch in den pgo_271.018
Strom der Zeit untertauchen, in ihrem Geiste, mit ihr, durch sie und für pgo_271.019
sie dichten. Denn der dichterische Funke entzündet sich vorzugsweise an pgo_271.020
den Berührungen des Lebens — das individuelle Leben aber ist in das pgo_271.021
große Netz der Kultur unlöslich eingefangen. Der Dilettantismus, der pgo_271.022
dies leugnet, geräth auch noch auf andere Abwege. Er verläßt den pgo_271.023
Standpunkt der Bildung, den er einnimmt, um, wie er sagt, zum Volk pgo_271.024
herabzusteigen; er dichtet in „volksthümlicher Weise“ mit Nachahmung pgo_271.025
aller unartikulirten Naturlaute; er trällert Volkslieder heraus, die nur pgo_271.026
als Jmprovisationen des Volksgeistes einen kulturgeschichtlichen Werth pgo_271.027
haben. Dies „Volk“ ist meistens eine Abstraktion der Studirstuben; der pgo_271.028
Dichter kennt kein anderes „Volk“ als die Nation. Nicht Arnim und pgo_271.029
Brentano, sondern Schiller und Körner sind echte Volksdichter der pgo_271.030
Deutschen.
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Eintheilung der Lyrik. pgo_271.032
Wenn wir die Lyrik in ihre einzelnen Gattungen verfolgen wollen: so pgo_271.033
bietet sich uns folgende Eintheilung dar, die wir aus dem Verhalten des pgo_271.034
dichtenden Subjektes zu seinem Objekte herleiten. Entweder bleibt der pgo_271.035
Dichter ganz auf dem Boden der Empfindung stehn, in deren koncentrirte
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