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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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welch' ein Wechsel der Behandlungsweise, welch' eine Unerschöpflichkeit pgo_255.002
des einen großen Themas der Liebe! Nehmen wir noch hierzu Klopstock's pgo_255.003
theils erhabene, theils familiaire Liebesoden, Goethe's einfache, pgo_255.004
gefällig innige Lieder, Byron's stolz leidenschaftliche Gesänge, Geibel's pgo_255.005
blonde, keusche, ätherische Minne, Lenau's nach düstern Bildern haschende pgo_255.006
Gluth, Heine's blasirte, schalkhafte, aromatisch duftige Erotik, Dingelstedt's pgo_255.007
schönempfundene, von geistigen Kontrasten tiefbewegte Liebeselegieen pgo_255.008
-- so gewinnen wir die Ueberzeugung, daß jeder wahrhafte Dichter pgo_255.009
einen neuen Ton trifft, um die Liebe zu feiern, daß diese Skala nicht pgo_255.010
erschöpft ist und nie erschöpft werden kann. Schon die Liebes- und Naturlyrik pgo_255.011
konnte die leiseste Anregung, die flüchtigste Stimmung verwerthen, pgo_255.012
und in der That kann die Lyrik überhaupt noch dort ihre Stoffe suchen pgo_255.013
und finden, wo ein die Dinge messender und wägender Verstand nur pgo_255.014
imponderable Größen erblickt. Wie die Stimmung des Gemüths oft pgo_255.015
aus unerkennbaren Atomen zusammengeweht wird: so auch das Gedicht, pgo_255.016
das aus ihr hervorgeht. Kleinigkeiten, Tändeleien, Nichtigkeiten des pgo_255.017
Daseins sind vollkommen am Platz, sobald die Seele ihre Regungen an pgo_255.018
sie anzuknüpfen vermag. Eine reiche Seele schaut im Kleinsten das All pgo_255.019
und lebt mit gleicher Gedankentiefe und Fülle im mikroskopischen, wie pgo_255.020
im teleskopischen Universum. Doch darf die Harmlosigkeit des Stoffs pgo_255.021
nie die künstlerische Form, die eben das Kleinste adeln soll, ankränkeln -- pgo_255.022
ein bloßes Austrällern der Gefühle findet sich wohl in der Volkspoesie, pgo_255.023
doch bleibt es künstlerisch verwerflich. Auf der andern Seite soll das pgo_255.024
Gemüth des Dichters, wenn es auch berechtigt ist, die vergänglichste pgo_255.025
Stimmung festzuhalten, nie unklaren Launen oder tollen Marotten die pgo_255.026
Ehre dichterischer Verherrlichung angedeihn lassen, sondern stets im Auge pgo_255.027
behalten, daß es sich in der Poesie um ein Aussingen der Seele handelt, pgo_255.028
welches allgemeinen Anklang erweckt, nicht um ein Aushusten oder pgo_255.029
Ausniesen, das nur zur persönlichen Erleichterung dient.

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Wir haben den Kreis des Jnhaltes durchmessen, über den die Lyrik pgo_255.031
verfügen kann; es gilt jetzt die Kunstform der Lyrik in's Auge zu fassen. pgo_255.032
Da das lyrische Gedicht aus der Stimmung des Augenblickes hervorgeht: pgo_255.033
so kann es nicht so langathmig sein, wie das epische oder dramatische, pgo_255.034
welche eine gestaltenvolle Welt spiegeln; es ist schon dadurch auf die pgo_255.035
Kürze hingewiesen. Eine umfangreichere lyrische Dichtung wird sich

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doch bleibt es künstlerisch verwerflich. Auf der andern Seite soll das pgo_255.024
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so kann es nicht so langathmig sein, wie das epische oder dramatische, pgo_255.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/277>, abgerufen am 22.11.2024.