pgo_248.005 Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der pgo_248.006 Empfindung und ihrer unmittelbaren Gegenwart; sie macht die pgo_248.007 empfindende Seele zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem pgo_248.008 Augenblick einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie pgo_248.009 des Gemüthes und seiner wechselnden Stimmungen, die reiche, vielbewegte pgo_248.010 Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem pgo_248.011 Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische pgo_248.012 momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht pgo_248.013 ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.
pgo_248.014 Da die Lyrik das Reich der Stimmungen beherrscht: so entspricht sie pgo_248.015 der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That pgo_248.016 kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem pgo_248.017 Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze pgo_248.018 Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht pgo_248.019 hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne pgo_248.020 das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der pgo_248.021 Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung, pgo_248.022 das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat pgo_248.023 das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch pgo_248.024 diese kommt in der Lyrik, der musikalischen Poesie, zu ihrem Rechte.
pgo_248.001 Erstes Hauptstück.
pgo_248.002
Die Lyrik.
pgo_248.003
Erster Abschnitt.
pgo_248.004 Wesen der Lyrik.
pgo_248.005 Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der pgo_248.006 Empfindung und ihrer unmittelbaren Gegenwart; sie macht die pgo_248.007 empfindende Seele zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem pgo_248.008 Augenblick einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie pgo_248.009 des Gemüthes und seiner wechselnden Stimmungen, die reiche, vielbewegte pgo_248.010 Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem pgo_248.011 Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische pgo_248.012 momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht pgo_248.013 ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.
pgo_248.014 Da die Lyrik das Reich der Stimmungen beherrscht: so entspricht sie pgo_248.015 der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That pgo_248.016 kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem pgo_248.017 Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze pgo_248.018 Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht pgo_248.019 hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne pgo_248.020 das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der pgo_248.021 Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung, pgo_248.022 das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat pgo_248.023 das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch pgo_248.024 diese kommt in der Lyrik, der musikalischen Poesie, zu ihrem Rechte.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0270"n="E248"/><head><hirendition="#c"><lbn="pgo_248.001"/>
Erstes Hauptstück.</hi></head><lbn="pgo_248.002"/><head><hirendition="#c">Die Lyrik. </hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="4"><lbn="pgo_248.003"/><head><hirendition="#c">Erster Abschnitt.</hi></head><lbn="pgo_248.004"/><head><hirendition="#c"><hirendition="#g">Wesen der Lyrik</hi>.</hi></head><p><lbn="pgo_248.005"/>
Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der <lbn="pgo_248.006"/><hirendition="#g">Empfindung</hi> und ihrer unmittelbaren <hirendition="#g">Gegenwart;</hi> sie macht die <lbn="pgo_248.007"/><hirendition="#g">empfindende Seele</hi> zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem <lbn="pgo_248.008"/><hirendition="#g">Augenblick</hi> einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie <lbn="pgo_248.009"/>
des <hirendition="#g">Gemüthes</hi> und seiner wechselnden <hirendition="#g">Stimmungen,</hi> die reiche, vielbewegte <lbn="pgo_248.010"/>
Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem <lbn="pgo_248.011"/>
Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische <lbn="pgo_248.012"/>
momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht <lbn="pgo_248.013"/>
ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.</p><p><lbn="pgo_248.014"/>
Da die Lyrik das Reich der <hirendition="#g">Stimmungen</hi> beherrscht: so entspricht sie <lbn="pgo_248.015"/>
der <hirendition="#g">Musik</hi> und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That <lbn="pgo_248.016"/>
kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem <lbn="pgo_248.017"/>
Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze <lbn="pgo_248.018"/>
Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht <lbn="pgo_248.019"/>
hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne <lbn="pgo_248.020"/>
das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der <lbn="pgo_248.021"/>
Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung, <lbn="pgo_248.022"/>
das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat <lbn="pgo_248.023"/>
das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch <lbn="pgo_248.024"/>
diese kommt in der Lyrik, der <hirendition="#g">musikalischen</hi> Poesie, zu ihrem Rechte.
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[E248/0270]
pgo_248.001
Erstes Hauptstück. pgo_248.002
Die Lyrik.
pgo_248.003
Erster Abschnitt. pgo_248.004
Wesen der Lyrik. pgo_248.005
Die dichtende Phantasie stellt sich zunächst auf den Boden der pgo_248.006
Empfindung und ihrer unmittelbaren Gegenwart; sie macht die pgo_248.007
empfindende Seele zum Mittelpunkt des Universums und giebt dem pgo_248.008
Augenblick einen unendlichen Werth. Die Lyrik erschließt die Poesie pgo_248.009
des Gemüthes und seiner wechselnden Stimmungen, die reiche, vielbewegte pgo_248.010
Jnnerlichkeit, welche gleichsam die ganze äußere Welt in ihrem pgo_248.011
Feuer aufzehrt. Sie spricht diese Stimmungen mit der Wärme und Frische pgo_248.012
momentaner, aber doch künstlerisch geläuterter Erregtheit aus und leiht pgo_248.013
ihnen den ganzen melodischen und rhythmischen Zauber der Sprache.
pgo_248.014
Da die Lyrik das Reich der Stimmungen beherrscht: so entspricht sie pgo_248.015
der Musik und scheint in ihre Domaine überzugreifen. Jn der That pgo_248.016
kommt in ihr ebenfalls das unbestimmte Weben des Gemüths zu seinem pgo_248.017
Recht und seinem Ausdruck, und in der Form gebietet sie über die ganze pgo_248.018
Musik der Sprache. Doch schon aus dem Wesen der Dichtkunst geht pgo_248.019
hervor, daß auch die Lyrik nicht, wie die Musik, in der Welt der Töne pgo_248.020
das alleinige Medium finden kann, in welchem sich der Ausdruck der pgo_248.021
Seele offenbart, sondern daß sie den bestimmteren Aether der Vorstellung, pgo_248.022
das geistige Bild, zum Ausdruck der Empfindung wählt. Freilich hat pgo_248.023
das Wort, außer seiner Bedeutung, auch seine tönende Saite, und auch pgo_248.024
diese kommt in der Lyrik, der musikalischen Poesie, zu ihrem Rechte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/270>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.