pgo_243.001 Alkäos so gut wie Walther von der Vogelweide, deutsche Volkslieder so pgo_243.002 gut wie Petrarkische Kanzonen innerhalb einer Strophe, die dann regelmäßig pgo_243.003 wiederkehrt. Die gleichen Theile heißen in Deutschland Stollen, pgo_243.004 der ungleiche Abgesang." Ein solcher großartiger, dreigliedriger strophischer pgo_243.005 Organismus mit reimendem Versabschluß erscheint uns für die pgo_243.006 höchste Gattung der Lyrik im Deutschen als die angemessenste Form, die pgo_243.007 bis jetzt noch nicht versucht ist, die aber unfehlbar wird versucht werden, pgo_243.008 wenn der Sinn für die höhere Lyrik wieder lebendiger zum Durchbruch pgo_243.009 kommt.
pgo_243.010 3. Brientalische Versarten.
pgo_243.011 a. Die Gaselen.
pgo_243.012 Die Gaselen (Lobgedichte) sind eine persische Dichtform, welche pgo_243.013 Rückert und Platen in die deutsche Literatur eingeführt haben. Jhre pgo_243.014 charakteristische Eigenthümlichkeit besteht in der Wiederkehr desselben pgo_243.015 Endreimes, der in zwei ersten auf einander folgenden Zeilen sich ankündigt, pgo_243.016 dessen spätere Wiederholungen aber durch eine reimlose Zeile zur pgo_243.017 Vermeidung der Monotonie unterbrochen werden. Dabei ist es gleichgültig, pgo_243.018 ob das Metrum ein jambisches, daktylisches und trochäisches und pgo_243.019 wie groß die Zahl der Füße ist -- nur muß derselbe Rhythmus streng pgo_243.020 durch das Ganze durchgeführt werden. Außer dem Reime selbst wird, pgo_243.021 in den entsprechenden Zeilen, noch ein einzelnes oder mehrere einzelne pgo_243.022 Wörter wiederholt, oder vielmehr -- die Gaselen lieben es, einen Kretikus pgo_243.023 zu reimen:
pgo_243.024
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde Nichts,pgo_243.025 Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde Nichts!pgo_243.026 Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,pgo_243.027 So gäb's Beklagenswertheres auf diesem weiten Runde Nichts.
pgo_243.028
Platen.
pgo_243.029 Die Form der "Gasele" hat etwas Kindliches und Unreifes; sie eignet pgo_243.030 sich nur als Band für an einander gereihte Spruchperlen, für Parallelismen pgo_243.031 des Gedankens und des Bildes. Bei größeren "Gaselen" wirkt pgo_243.032 der immer wiederkehrende Reim ermüdend und hält die Seele in dem pgo_243.033 gleichen Gedankenbann. Eine Anwendung der "Gaselen" für andere, pgo_243.034 als kleine sententiöse Gedichte, muß in der deutschen Poesie als unangemessen pgo_243.035 erscheinen.
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Platen.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/265>, abgerufen am 16.02.2025.
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