Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_239.001
Gereimt:

pgo_239.002
Und sinken Völker in des Verderbens Schlund, pgo_239.003
Der Satz des Elends bleibt auf des Bechers Grund, pgo_239.004
So oft ihn auch im Strafgerichte pgo_239.005
Schmettert in Scherben die Weltgeschichte.
pgo_239.006

Gottschall.

pgo_239.007
b. Die sapphische Strophe.
pgo_239.008

_ _ _ _ _ || _ _ _ _ _ _- pgo_239.009
_ _ _ _ _ || _ _ _ _ _ _- pgo_239.010
_ _ _ _ _ || _ _ _ _ _ _- pgo_239.011
_ _ _ _ _-

pgo_239.012
Wie in der älcäischen Strophe der jambische, so überwiegt in der pgo_239.013
sapphischen der trochäische Gang. Die drei ersten Zeilen sind ganz gleich. pgo_239.014
Eine trochäische Dipodie beginnt den Vers, die in einer männlichen Länge pgo_239.015
vor der Cäsur austönt; dann tritt ein Anapäst und ein Jambus ein; pgo_239.016
der jambische Gang wird aber wieder durch die Nachschlagsylbe gemildert pgo_239.017
und dem trochäischen genähert. Die vierte Zeile, welche die Strophe abrundend pgo_239.018
austönen läßt, besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus.

pgo_239.019
Horaz hat die Cäsur stets streng beobachtet! Läßt man sie außer pgo_239.020
Acht, wie es die meisten andern Dichter gethan, so wird der Charakter pgo_239.021
des Verses wesentlich verändert. Wir erhalten zwei trochäische Dipodieen, pgo_239.022
zwischen denen ein Daktylus steht. Dadurch wird aber der Vers bei pgo_239.023
weitem einförmiger, während er durch die Cäsur, wie die alcäische pgo_239.024
Strophe, in zwei Hälften von entgegengesetztem Gange abgetheilt wird, pgo_239.025
als deren höhere Einheit der Vers einen charakteristisch bewegten Charakter pgo_239.026
erhält. Gerade der Anapäst nach der Cäsur giebt dem Vers, der in pgo_239.027
Trochäen sinnig anfängt, eine heitere Beweglichkeit. So eignet sich die pgo_239.028
Strophe, welche die Dichterin Sappho in ihren liebeglühenden Gedichten pgo_239.029
vorzugsweise angewendet, für getragene Heiterkeit'oder innige Gluth. Sie pgo_239.030
ist subjektiver, als die alcäische, durch ihren Trochäenfall mehr nach innen pgo_239.031
gewendet, in der letzten Zeile, dem adonischen Vers, mit anmuthigem pgo_239.032
Schmerze austönend. Allzuhäufige Spondäen, wenn sie auch in der pgo_239.033
zweiten Stelle der Dipodie verstattet sind, machen den Gang der Strophe

pgo_239.001
Gereimt:

pgo_239.002
Und sinken Völker in des Verderbens Schlund, pgo_239.003
Der Satz des Elends bleibt auf des Bechers Grund, pgo_239.004
So oft ihn auch im Strafgerichte pgo_239.005
Schmettert in Scherben die Weltgeschichte.
pgo_239.006

Gottschall.

pgo_239.007
b. Die sapphische Strophe.
pgo_239.008

_ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿ pgo_239.009
_ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿ pgo_239.010
_ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿ pgo_239.011
_ ‿ ‿ _ ‿

pgo_239.012
Wie in der älcäischen Strophe der jambische, so überwiegt in der pgo_239.013
sapphischen der trochäische Gang. Die drei ersten Zeilen sind ganz gleich. pgo_239.014
Eine trochäische Dipodie beginnt den Vers, die in einer männlichen Länge pgo_239.015
vor der Cäsur austönt; dann tritt ein Anapäst und ein Jambus ein; pgo_239.016
der jambische Gang wird aber wieder durch die Nachschlagsylbe gemildert pgo_239.017
und dem trochäischen genähert. Die vierte Zeile, welche die Strophe abrundend pgo_239.018
austönen läßt, besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus.

pgo_239.019
Horaz hat die Cäsur stets streng beobachtet! Läßt man sie außer pgo_239.020
Acht, wie es die meisten andern Dichter gethan, so wird der Charakter pgo_239.021
des Verses wesentlich verändert. Wir erhalten zwei trochäische Dipodieen, pgo_239.022
zwischen denen ein Daktylus steht. Dadurch wird aber der Vers bei pgo_239.023
weitem einförmiger, während er durch die Cäsur, wie die alcäische pgo_239.024
Strophe, in zwei Hälften von entgegengesetztem Gange abgetheilt wird, pgo_239.025
als deren höhere Einheit der Vers einen charakteristisch bewegten Charakter pgo_239.026
erhält. Gerade der Anapäst nach der Cäsur giebt dem Vers, der in pgo_239.027
Trochäen sinnig anfängt, eine heitere Beweglichkeit. So eignet sich die pgo_239.028
Strophe, welche die Dichterin Sappho in ihren liebeglühenden Gedichten pgo_239.029
vorzugsweise angewendet, für getragene Heiterkeit'oder innige Gluth. Sie pgo_239.030
ist subjektiver, als die alcäische, durch ihren Trochäenfall mehr nach innen pgo_239.031
gewendet, in der letzten Zeile, dem adonischen Vers, mit anmuthigem pgo_239.032
Schmerze austönend. Allzuhäufige Spondäen, wenn sie auch in der pgo_239.033
zweiten Stelle der Dipodie verstattet sind, machen den Gang der Strophe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0261" n="239"/>
                  <p>
                    <lb n="pgo_239.001"/> <hi rendition="#g">Gereimt:</hi> </p>
                  <lb n="pgo_239.002"/>
                  <lg>
                    <l>Und sinken Völker in des Verderbens Schlund,</l>
                    <lb n="pgo_239.003"/>
                    <l>Der Satz des Elends bleibt auf des Bechers Grund,</l>
                    <lb n="pgo_239.004"/>
                    <l>So oft ihn auch im Strafgerichte</l>
                    <lb n="pgo_239.005"/>
                    <l>Schmettert in Scherben die Weltgeschichte.</l>
                  </lg>
                  <lb n="pgo_239.006"/>
                  <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Gottschall</hi>.</hi> </p>
                </div>
                <div n="6">
                  <lb n="pgo_239.007"/>
                  <head> <hi rendition="#c">b. <hi rendition="#g">Die sapphische Strophe.</hi></hi> </head>
                  <lb n="pgo_239.008"/>
                  <p> <hi rendition="#right">_ &#x203F; _ &#x203F; _ &#x2016; &#x203F; &#x203F; _ &#x203F; _ &#x203F;<metamark function="metEmph" place="superlinear">&#x2500;</metamark> <lb n="pgo_239.009"/>
_ &#x203F; _ &#x203F; _ &#x2016; &#x203F; &#x203F; _ &#x203F; _ &#x203F;<metamark function="metEmph" place="superlinear">&#x2500;</metamark> <lb n="pgo_239.010"/>
_ &#x203F; _ &#x203F; _ &#x2016; &#x203F; &#x203F; _ &#x203F; _ &#x203F;<metamark function="metEmph" place="superlinear">&#x2500;</metamark> <lb n="pgo_239.011"/>
_ &#x203F; &#x203F; _ &#x203F;<metamark function="metEmph" place="superlinear">&#x2500;</metamark></hi> </p>
                  <p><lb n="pgo_239.012"/>
Wie in der älcäischen Strophe der jambische, so überwiegt in der <lb n="pgo_239.013"/>
sapphischen der trochäische Gang. Die drei ersten Zeilen sind ganz gleich. <lb n="pgo_239.014"/>
Eine trochäische Dipodie beginnt den Vers, die in einer männlichen Länge <lb n="pgo_239.015"/>
vor der Cäsur austönt; dann tritt ein Anapäst und ein Jambus ein; <lb n="pgo_239.016"/>
der jambische Gang wird aber wieder durch die Nachschlagsylbe gemildert <lb n="pgo_239.017"/>
und dem trochäischen genähert. Die vierte Zeile, welche die Strophe abrundend <lb n="pgo_239.018"/>
austönen läßt, besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus.</p>
                  <p><lb n="pgo_239.019"/><hi rendition="#g">Horaz</hi> hat die Cäsur stets streng beobachtet! Läßt man sie außer <lb n="pgo_239.020"/>
Acht, wie es die meisten andern Dichter gethan, so wird der Charakter <lb n="pgo_239.021"/>
des Verses wesentlich verändert. Wir erhalten zwei trochäische Dipodieen, <lb n="pgo_239.022"/>
zwischen denen ein Daktylus steht. Dadurch wird aber der Vers bei <lb n="pgo_239.023"/>
weitem einförmiger, während er durch die Cäsur, wie die alcäische <lb n="pgo_239.024"/>
Strophe, in zwei Hälften von entgegengesetztem Gange abgetheilt wird, <lb n="pgo_239.025"/>
als deren höhere Einheit der Vers einen charakteristisch bewegten Charakter <lb n="pgo_239.026"/>
erhält. Gerade der Anapäst nach der Cäsur giebt dem Vers, der in <lb n="pgo_239.027"/>
Trochäen sinnig anfängt, eine heitere Beweglichkeit. So eignet sich die <lb n="pgo_239.028"/>
Strophe, welche die Dichterin Sappho in ihren liebeglühenden Gedichten <lb n="pgo_239.029"/>
vorzugsweise angewendet, für getragene Heiterkeit'oder innige Gluth. Sie <lb n="pgo_239.030"/>
ist subjektiver, als die alcäische, durch ihren Trochäenfall mehr nach innen <lb n="pgo_239.031"/>
gewendet, in der letzten Zeile, dem <hi rendition="#g">adonischen Vers,</hi> mit anmuthigem <lb n="pgo_239.032"/>
Schmerze austönend. Allzuhäufige Spondäen, wenn sie auch in der <lb n="pgo_239.033"/>
zweiten Stelle der Dipodie verstattet sind, machen den Gang der Strophe
</p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0261] pgo_239.001 Gereimt: pgo_239.002 Und sinken Völker in des Verderbens Schlund, pgo_239.003 Der Satz des Elends bleibt auf des Bechers Grund, pgo_239.004 So oft ihn auch im Strafgerichte pgo_239.005 Schmettert in Scherben die Weltgeschichte. pgo_239.006 Gottschall. pgo_239.007 b. Die sapphische Strophe. pgo_239.008 _ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿─ pgo_239.009 _ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿─ pgo_239.010 _ ‿ _ ‿ _ ‖ ‿ ‿ _ ‿ _ ‿─ pgo_239.011 _ ‿ ‿ _ ‿─ pgo_239.012 Wie in der älcäischen Strophe der jambische, so überwiegt in der pgo_239.013 sapphischen der trochäische Gang. Die drei ersten Zeilen sind ganz gleich. pgo_239.014 Eine trochäische Dipodie beginnt den Vers, die in einer männlichen Länge pgo_239.015 vor der Cäsur austönt; dann tritt ein Anapäst und ein Jambus ein; pgo_239.016 der jambische Gang wird aber wieder durch die Nachschlagsylbe gemildert pgo_239.017 und dem trochäischen genähert. Die vierte Zeile, welche die Strophe abrundend pgo_239.018 austönen läßt, besteht aus einem Daktylus und einem Trochäus. pgo_239.019 Horaz hat die Cäsur stets streng beobachtet! Läßt man sie außer pgo_239.020 Acht, wie es die meisten andern Dichter gethan, so wird der Charakter pgo_239.021 des Verses wesentlich verändert. Wir erhalten zwei trochäische Dipodieen, pgo_239.022 zwischen denen ein Daktylus steht. Dadurch wird aber der Vers bei pgo_239.023 weitem einförmiger, während er durch die Cäsur, wie die alcäische pgo_239.024 Strophe, in zwei Hälften von entgegengesetztem Gange abgetheilt wird, pgo_239.025 als deren höhere Einheit der Vers einen charakteristisch bewegten Charakter pgo_239.026 erhält. Gerade der Anapäst nach der Cäsur giebt dem Vers, der in pgo_239.027 Trochäen sinnig anfängt, eine heitere Beweglichkeit. So eignet sich die pgo_239.028 Strophe, welche die Dichterin Sappho in ihren liebeglühenden Gedichten pgo_239.029 vorzugsweise angewendet, für getragene Heiterkeit'oder innige Gluth. Sie pgo_239.030 ist subjektiver, als die alcäische, durch ihren Trochäenfall mehr nach innen pgo_239.031 gewendet, in der letzten Zeile, dem adonischen Vers, mit anmuthigem pgo_239.032 Schmerze austönend. Allzuhäufige Spondäen, wenn sie auch in der pgo_239.033 zweiten Stelle der Dipodie verstattet sind, machen den Gang der Strophe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/261
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/261>, abgerufen am 25.11.2024.