Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_230.001
war die Cäsur, welche männlich heißt, wenn sie nach der ersten Sylbe pgo_230.002
des dritten Daktylus und Spondäus eintritt:

pgo_230.003
Stolberg über der Stadt || am besegelten Busen der Ostsee.
pgo_230.004

Voß.

pgo_230.005
weiblich dagegen, wenn sie nach der zweiten Sylbe des dritten Daktylus pgo_230.006
steht:

pgo_230.007
Horcht' ich der lockenden Wachtel || im grünlichen Rauche der Aehren.
pgo_230.008

Voß.

pgo_230.009
Ohne die Cäsur hat der Hexameter einen unorganischen, stolpernden pgo_230.010
Gang. Doch kann statt dieser Cäsur auch eine Doppelcäsur nach der pgo_230.011
ersten Sylbe des zweiten und der ersten des vierten Daktylus oder pgo_230.012
Spondäus stehn:

pgo_230.013
Ob er zum Kampf || des heroischen Lieds || unermüdlich sich gürtet.

pgo_230.014
Klopstock, Goethe, Schiller haben im Deutschen die Spondäen pgo_230.015
mit Trochäen vertauscht, in neuester Zeit ist man, nach dem pgo_230.016
Vorgang von Voß, darin gewissenhafter und strenger geworden.

pgo_230.017
Der Hexameter hat, besonders in den alten Sprachen, einen vollwogenden, pgo_230.018
majestätischen Gang. Wir fahren auf ihm gleichsam hinaus pgo_230.019
in das weite Meer des Lebens mit bald beschleunigter, bald verlangsamter pgo_230.020
Fahrt. Dieser Vers des klassischen Volks- und Kunstepos, des pgo_230.021
Homer und Virgil, wurde von Klopstock zuerst in Deutschland eingebürgert, pgo_230.022
obwohl er den oratorischen Hymnenklängen der Messiade nur pgo_230.023
mit Widerstreben sich fügte. Goethe in "Hermann und Dorothea," dem pgo_230.024
"Reineke Fuchs" und der "Achilleis," Schiller in einzelnen Distichen pgo_230.025
brauchten ihn mit größerer Freiheit; strenger und kunstmäßiger behandelt pgo_230.026
ihn in seiner "Louise" und seinen epischen Uebersetzungen der griechischen pgo_230.027
und römischen Epiker Voß, der Luther der Homerischen Bibel, pgo_230.028
dessen Uebersetzungen so leicht kein Nachfolger verdrängen wird. Am pgo_230.029
reinsten haben Schlegel und Platen den Hexameter durchgeführt; und pgo_230.030
in der That darf man vom neuen Hexameter den ausschließlichen Wechsel pgo_230.031
von Spondäen und Daktylen verlangen, um so mehr, als sein Reich ein pgo_230.032
beschränkteres geworden ist. Denn für den epischen Vers der Neuzeit pgo_230.033
kann er nicht mehr gelten; die letzten Versuche, ihn wieder einzuführen, pgo_230.034
wie das idyllische Epos von Moritz Hartmann "Adam und Eva," pgo_230.035
sind ohne Zweifel gescheitert. Der Hexameter hat für uns durchaus

pgo_230.001
war die Cäsur, welche männlich heißt, wenn sie nach der ersten Sylbe pgo_230.002
des dritten Daktylus und Spondäus eintritt:

pgo_230.003
Stolberg über der Stadt ‖ am besegelten Busen der Ostsee.
pgo_230.004

Voß.

pgo_230.005
weiblich dagegen, wenn sie nach der zweiten Sylbe des dritten Daktylus pgo_230.006
steht:

pgo_230.007
Horcht' ich der lockenden Wachtel ‖ im grünlichen Rauche der Aehren.
pgo_230.008

Voß.

pgo_230.009
Ohne die Cäsur hat der Hexameter einen unorganischen, stolpernden pgo_230.010
Gang. Doch kann statt dieser Cäsur auch eine Doppelcäsur nach der pgo_230.011
ersten Sylbe des zweiten und der ersten des vierten Daktylus oder pgo_230.012
Spondäus stehn:

pgo_230.013
Ob er zum Kampf ‖ des heroischen Lieds ‖ unermüdlich sich gürtet.

pgo_230.014
Klopstock, Goethe, Schiller haben im Deutschen die Spondäen pgo_230.015
mit Trochäen vertauscht, in neuester Zeit ist man, nach dem pgo_230.016
Vorgang von Voß, darin gewissenhafter und strenger geworden.

pgo_230.017
Der Hexameter hat, besonders in den alten Sprachen, einen vollwogenden, pgo_230.018
majestätischen Gang. Wir fahren auf ihm gleichsam hinaus pgo_230.019
in das weite Meer des Lebens mit bald beschleunigter, bald verlangsamter pgo_230.020
Fahrt. Dieser Vers des klassischen Volks- und Kunstepos, des pgo_230.021
Homer und Virgil, wurde von Klopstock zuerst in Deutschland eingebürgert, pgo_230.022
obwohl er den oratorischen Hymnenklängen der Messiade nur pgo_230.023
mit Widerstreben sich fügte. Goethe in „Hermann und Dorothea,“ dem pgo_230.024
„Reineke Fuchs“ und der „Achillëis,“ Schiller in einzelnen Distichen pgo_230.025
brauchten ihn mit größerer Freiheit; strenger und kunstmäßiger behandelt pgo_230.026
ihn in seiner „Louise“ und seinen epischen Uebersetzungen der griechischen pgo_230.027
und römischen Epiker Voß, der Luther der Homerischen Bibel, pgo_230.028
dessen Uebersetzungen so leicht kein Nachfolger verdrängen wird. Am pgo_230.029
reinsten haben Schlegel und Platen den Hexameter durchgeführt; und pgo_230.030
in der That darf man vom neuen Hexameter den ausschließlichen Wechsel pgo_230.031
von Spondäen und Daktylen verlangen, um so mehr, als sein Reich ein pgo_230.032
beschränkteres geworden ist. Denn für den epischen Vers der Neuzeit pgo_230.033
kann er nicht mehr gelten; die letzten Versuche, ihn wieder einzuführen, pgo_230.034
wie das idyllische Epos von Moritz Hartmann „Adam und Eva,“ pgo_230.035
sind ohne Zweifel gescheitert. Der Hexameter hat für uns durchaus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0252" n="230"/><lb n="pgo_230.001"/>
war die <hi rendition="#g">Cäsur,</hi> welche <hi rendition="#g">männlich</hi> heißt, wenn sie nach der ersten Sylbe <lb n="pgo_230.002"/>
des dritten Daktylus und Spondäus eintritt:</p>
                  <lb n="pgo_230.003"/>
                  <lg>
                    <l>Stolberg über der Stadt &#x2016; am besegelten Busen der Ostsee.</l>
                  </lg>
                  <lb n="pgo_230.004"/>
                  <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Voß</hi>.</hi> </p>
                  <p><lb n="pgo_230.005"/><hi rendition="#g">weiblich</hi> dagegen, wenn sie nach der zweiten Sylbe des dritten Daktylus <lb n="pgo_230.006"/>
steht:</p>
                  <lb n="pgo_230.007"/>
                  <lg>
                    <l>Horcht' ich der lockenden Wachtel &#x2016; im grünlichen Rauche der Aehren.</l>
                  </lg>
                  <lb n="pgo_230.008"/>
                  <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Voß</hi>.</hi> </p>
                  <p><lb n="pgo_230.009"/>
Ohne die Cäsur hat der Hexameter einen unorganischen, stolpernden <lb n="pgo_230.010"/>
Gang. Doch kann statt dieser Cäsur auch eine Doppelcäsur nach der <lb n="pgo_230.011"/>
ersten Sylbe des zweiten und der ersten des vierten Daktylus oder <lb n="pgo_230.012"/>
Spondäus stehn:</p>
                  <lb n="pgo_230.013"/>
                  <lg>
                    <l>Ob er zum Kampf &#x2016; des heroischen Lieds &#x2016; unermüdlich sich gürtet.</l>
                  </lg>
                  <p><lb n="pgo_230.014"/><hi rendition="#g">Klopstock, Goethe, Schiller</hi> haben im Deutschen die <hi rendition="#g">Spondäen</hi> <lb n="pgo_230.015"/>
mit <hi rendition="#g">Trochäen</hi> vertauscht, in neuester Zeit ist man, nach dem <lb n="pgo_230.016"/>
Vorgang von Voß, darin gewissenhafter und strenger geworden.</p>
                  <p><lb n="pgo_230.017"/>
Der Hexameter hat, besonders in den alten Sprachen, einen vollwogenden, <lb n="pgo_230.018"/>
majestätischen Gang. Wir fahren auf ihm gleichsam hinaus <lb n="pgo_230.019"/>
in das weite Meer des Lebens mit bald beschleunigter, bald verlangsamter <lb n="pgo_230.020"/>
Fahrt. Dieser Vers des klassischen Volks- und Kunstepos, des <lb n="pgo_230.021"/>
Homer und Virgil, wurde von <hi rendition="#g">Klopstock</hi> zuerst in Deutschland eingebürgert, <lb n="pgo_230.022"/>
obwohl er den oratorischen Hymnenklängen der Messiade nur <lb n="pgo_230.023"/>
mit Widerstreben sich fügte. Goethe in &#x201E;Hermann und Dorothea,&#x201C; dem <lb n="pgo_230.024"/>
&#x201E;Reineke Fuchs&#x201C; und der &#x201E;Achillëis,&#x201C; Schiller in einzelnen Distichen <lb n="pgo_230.025"/>
brauchten ihn mit größerer Freiheit; strenger und kunstmäßiger behandelt <lb n="pgo_230.026"/>
ihn in seiner &#x201E;Louise&#x201C; und seinen <hi rendition="#g">epischen</hi> Uebersetzungen der griechischen <lb n="pgo_230.027"/>
und römischen Epiker <hi rendition="#g">Voß,</hi> der Luther der Homerischen Bibel, <lb n="pgo_230.028"/>
dessen Uebersetzungen so leicht kein Nachfolger verdrängen wird. Am <lb n="pgo_230.029"/>
reinsten haben <hi rendition="#g">Schlegel</hi> und <hi rendition="#g">Platen</hi> den Hexameter durchgeführt; und <lb n="pgo_230.030"/>
in der That darf man vom neuen Hexameter den ausschließlichen Wechsel <lb n="pgo_230.031"/>
von Spondäen und Daktylen verlangen, um so mehr, als sein Reich ein <lb n="pgo_230.032"/>
beschränkteres geworden ist. Denn für den epischen Vers der Neuzeit <lb n="pgo_230.033"/>
kann er nicht mehr gelten; die letzten Versuche, ihn wieder einzuführen, <lb n="pgo_230.034"/>
wie das idyllische Epos von <hi rendition="#g">Moritz Hartmann</hi> &#x201E;Adam und Eva,&#x201C; <lb n="pgo_230.035"/>
sind ohne Zweifel gescheitert. Der Hexameter hat für uns durchaus
</p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[230/0252] pgo_230.001 war die Cäsur, welche männlich heißt, wenn sie nach der ersten Sylbe pgo_230.002 des dritten Daktylus und Spondäus eintritt: pgo_230.003 Stolberg über der Stadt ‖ am besegelten Busen der Ostsee. pgo_230.004 Voß. pgo_230.005 weiblich dagegen, wenn sie nach der zweiten Sylbe des dritten Daktylus pgo_230.006 steht: pgo_230.007 Horcht' ich der lockenden Wachtel ‖ im grünlichen Rauche der Aehren. pgo_230.008 Voß. pgo_230.009 Ohne die Cäsur hat der Hexameter einen unorganischen, stolpernden pgo_230.010 Gang. Doch kann statt dieser Cäsur auch eine Doppelcäsur nach der pgo_230.011 ersten Sylbe des zweiten und der ersten des vierten Daktylus oder pgo_230.012 Spondäus stehn: pgo_230.013 Ob er zum Kampf ‖ des heroischen Lieds ‖ unermüdlich sich gürtet. pgo_230.014 Klopstock, Goethe, Schiller haben im Deutschen die Spondäen pgo_230.015 mit Trochäen vertauscht, in neuester Zeit ist man, nach dem pgo_230.016 Vorgang von Voß, darin gewissenhafter und strenger geworden. pgo_230.017 Der Hexameter hat, besonders in den alten Sprachen, einen vollwogenden, pgo_230.018 majestätischen Gang. Wir fahren auf ihm gleichsam hinaus pgo_230.019 in das weite Meer des Lebens mit bald beschleunigter, bald verlangsamter pgo_230.020 Fahrt. Dieser Vers des klassischen Volks- und Kunstepos, des pgo_230.021 Homer und Virgil, wurde von Klopstock zuerst in Deutschland eingebürgert, pgo_230.022 obwohl er den oratorischen Hymnenklängen der Messiade nur pgo_230.023 mit Widerstreben sich fügte. Goethe in „Hermann und Dorothea,“ dem pgo_230.024 „Reineke Fuchs“ und der „Achillëis,“ Schiller in einzelnen Distichen pgo_230.025 brauchten ihn mit größerer Freiheit; strenger und kunstmäßiger behandelt pgo_230.026 ihn in seiner „Louise“ und seinen epischen Uebersetzungen der griechischen pgo_230.027 und römischen Epiker Voß, der Luther der Homerischen Bibel, pgo_230.028 dessen Uebersetzungen so leicht kein Nachfolger verdrängen wird. Am pgo_230.029 reinsten haben Schlegel und Platen den Hexameter durchgeführt; und pgo_230.030 in der That darf man vom neuen Hexameter den ausschließlichen Wechsel pgo_230.031 von Spondäen und Daktylen verlangen, um so mehr, als sein Reich ein pgo_230.032 beschränkteres geworden ist. Denn für den epischen Vers der Neuzeit pgo_230.033 kann er nicht mehr gelten; die letzten Versuche, ihn wieder einzuführen, pgo_230.034 wie das idyllische Epos von Moritz Hartmann „Adam und Eva,“ pgo_230.035 sind ohne Zweifel gescheitert. Der Hexameter hat für uns durchaus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/252
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/252>, abgerufen am 22.11.2024.