Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite
pgo_181.001

Leicester.

pgo_181.002
Wenn wir verderben, reißen wir sie nach.
pgo_181.003

Mortimer.

pgo_181.004
Wenn wir uns schonen, wird sie nicht gerettet.
pgo_181.005

Schiller, Maria Stuart.

pgo_181.006
7) Das Paradoxon, eine Redefigur, die scheinbar Unverträgliches pgo_181.007
durch eine tiefere Einheit des Gedankens zusammenkettet. Der Reiz dieser pgo_181.008
Figur liegt in der Kühnheit, mit welcher der Widerspruch hingestellt pgo_181.009
wird, und der stillen Freude, daß man den Schlüssel zu seiner Lösung pgo_181.010
in Händen hat.

pgo_181.011
Das Paradoxon ist entweder blos logisch z. B.

pgo_181.012
Du übersinnlich sinnlicher Freier.
pgo_181.013

Goethe, Faust.

pgo_181.014
Regular confusion.
pgo_181.015

Addison, Cato.

pgo_181.016
oder es ist metaphorisch z. B.

pgo_181.017
Mond meiner Tage, meiner Nächte Sonne, pgo_181.018
Hoch über mir geh' Deinen Strahlenlauf.
pgo_181.019

Dingelstedt.

pgo_181.020
Die Vorliebe für das Zusammenfassen unverträglicher Bestimmungen, pgo_181.021
deren tiefere Einheit oft nur eine scheinbare ist, schafft den paradoxen pgo_181.022
Styl,
der sich auch auf die Komposition größerer Kunstwerke bezieht. pgo_181.023
So ist Hebbel paradox im Entwurf seiner Dramen und in ihrer Charakteristik, pgo_181.024
während Arthur Schopenhauer ein paradoxer Denker ist.

pgo_181.025
6) Die Jronie ist diejenige Redefigur, welche das Gegentheil von pgo_181.026
dem sagt, was sie meint*). Der Widerspruch besteht hier nicht zwischen pgo_181.027
den einzelnen, nebeneinander gestellten Gedankenbestimmungen, wie im pgo_181.028
Paradoxon, sondern zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck pgo_181.029
durch die Rede. Die Jronie ist die Heuchelei des Geistes, der das Nichtige pgo_181.030
vernichtet, indem er's preist, und das Hohe erhebt, indem er es pgo_181.031
herabsetzt. Jhre Stimmung beruht, wie der Reiz des Paradoxon, auf pgo_181.032
einem Widerspruche, dessen unmittelbare Lösung die Phantasie erfreut. pgo_181.033
Jn dieser einfachen Form war die Jronie schon den alten Klassikern pgo_181.034
geläufig! So verhöhnt Patroklos bei Homer den Kebriones, der, von pgo_181.035
seinem Stein getroffen, vom Wagensitz herabschießt:

*) pgo_181.036
Ironia est alia dicentis et alia significantis dissimulatio. Cic. de Orat. 3.
pgo_181.001

Leicester.

pgo_181.002
Wenn wir verderben, reißen wir sie nach.
pgo_181.003

Mortimer.

pgo_181.004
Wenn wir uns schonen, wird sie nicht gerettet.
pgo_181.005

Schiller, Maria Stuart.

pgo_181.006
7) Das Paradoxon, eine Redefigur, die scheinbar Unverträgliches pgo_181.007
durch eine tiefere Einheit des Gedankens zusammenkettet. Der Reiz dieser pgo_181.008
Figur liegt in der Kühnheit, mit welcher der Widerspruch hingestellt pgo_181.009
wird, und der stillen Freude, daß man den Schlüssel zu seiner Lösung pgo_181.010
in Händen hat.

pgo_181.011
Das Paradoxon ist entweder blos logisch z. B.

pgo_181.012
Du übersinnlich sinnlicher Freier.
pgo_181.013

Goethe, Faust.

pgo_181.014
Regular confusion.
pgo_181.015

Addison, Cato.

pgo_181.016
oder es ist metaphorisch z. B.

pgo_181.017
Mond meiner Tage, meiner Nächte Sonne, pgo_181.018
Hoch über mir geh' Deinen Strahlenlauf.
pgo_181.019

Dingelstedt.

pgo_181.020
Die Vorliebe für das Zusammenfassen unverträglicher Bestimmungen, pgo_181.021
deren tiefere Einheit oft nur eine scheinbare ist, schafft den paradoxen pgo_181.022
Styl,
der sich auch auf die Komposition größerer Kunstwerke bezieht. pgo_181.023
So ist Hebbel paradox im Entwurf seiner Dramen und in ihrer Charakteristik, pgo_181.024
während Arthur Schopenhauer ein paradoxer Denker ist.

pgo_181.025
6) Die Jronie ist diejenige Redefigur, welche das Gegentheil von pgo_181.026
dem sagt, was sie meint*). Der Widerspruch besteht hier nicht zwischen pgo_181.027
den einzelnen, nebeneinander gestellten Gedankenbestimmungen, wie im pgo_181.028
Paradoxon, sondern zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck pgo_181.029
durch die Rede. Die Jronie ist die Heuchelei des Geistes, der das Nichtige pgo_181.030
vernichtet, indem er's preist, und das Hohe erhebt, indem er es pgo_181.031
herabsetzt. Jhre Stimmung beruht, wie der Reiz des Paradoxon, auf pgo_181.032
einem Widerspruche, dessen unmittelbare Lösung die Phantasie erfreut. pgo_181.033
Jn dieser einfachen Form war die Jronie schon den alten Klassikern pgo_181.034
geläufig! So verhöhnt Patroklos bei Homer den Kebriones, der, von pgo_181.035
seinem Stein getroffen, vom Wagensitz herabschießt:

*) pgo_181.036
Ironia est alia dicentis et alia significantis dissimulatio. Cic. de Orat. 3.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0203" n="181"/>
                <lb n="pgo_181.001"/>
                <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Leicester</hi>.</hi> </p>
                <lb n="pgo_181.002"/>
                <lg>
                  <l>Wenn <hi rendition="#g">wir</hi> verderben, reißen wir sie nach.</l>
                </lg>
                <lb n="pgo_181.003"/>
                <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Mortimer</hi>.</hi> </p>
                <lb n="pgo_181.004"/>
                <lg>
                  <l>Wenn wir uns schonen, wird sie nicht gerettet.</l>
                </lg>
                <lb n="pgo_181.005"/>
                <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Schiller,</hi> Maria Stuart.</hi> </p>
                <p><lb n="pgo_181.006"/>
7) Das <hi rendition="#g">Paradoxon,</hi> eine Redefigur, die scheinbar Unverträgliches <lb n="pgo_181.007"/>
durch eine tiefere Einheit des Gedankens zusammenkettet. Der Reiz dieser <lb n="pgo_181.008"/>
Figur liegt in der Kühnheit, mit welcher der Widerspruch hingestellt <lb n="pgo_181.009"/>
wird, und der stillen Freude, daß man den Schlüssel zu seiner Lösung <lb n="pgo_181.010"/>
in Händen hat.</p>
                <p><lb n="pgo_181.011"/>
Das Paradoxon ist entweder blos <hi rendition="#g">logisch</hi> z. B.</p>
                <lb n="pgo_181.012"/>
                <lg>
                  <l>Du übersinnlich sinnlicher Freier.</l>
                </lg>
                <lb n="pgo_181.013"/>
                <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Goethe,</hi> Faust.</hi> </p>
                <lb n="pgo_181.014"/>
                <lg>
                  <l><hi rendition="#aq">Regular confusion</hi>.</l>
                </lg>
                <lb n="pgo_181.015"/>
                <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Addison,</hi> Cato</hi>.</hi> </p>
                <p><lb n="pgo_181.016"/>
oder es ist <hi rendition="#g">metaphorisch</hi> z. B.</p>
                <lb n="pgo_181.017"/>
                <lg>
                  <l><hi rendition="#g">Mond meiner Tage,</hi> meiner <hi rendition="#g">Nächte Sonne,</hi></l>
                  <lb n="pgo_181.018"/>
                  <l>Hoch über mir geh' Deinen Strahlenlauf.</l>
                </lg>
                <lb n="pgo_181.019"/>
                <p> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Dingelstedt</hi>.</hi> </p>
                <p><lb n="pgo_181.020"/>
Die Vorliebe für das Zusammenfassen unverträglicher Bestimmungen, <lb n="pgo_181.021"/>
deren tiefere Einheit oft nur eine scheinbare ist, schafft den <hi rendition="#g">paradoxen <lb n="pgo_181.022"/>
Styl,</hi> der sich auch auf die Komposition größerer Kunstwerke bezieht. <lb n="pgo_181.023"/>
So ist <hi rendition="#g">Hebbel</hi> paradox im Entwurf seiner Dramen und in ihrer Charakteristik, <lb n="pgo_181.024"/>
während <hi rendition="#g">Arthur Schopenhauer</hi> ein paradoxer Denker ist.</p>
                <p><lb n="pgo_181.025"/>
6) Die <hi rendition="#g">Jronie</hi> ist diejenige Redefigur, welche das Gegentheil von <lb n="pgo_181.026"/>
dem sagt, was sie meint<note xml:id="PGO_181_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_181.036"/>
Ironia est alia dicentis et alia significantis dissimulatio. Cic. de Orat. 3.</note>. Der Widerspruch besteht hier nicht zwischen <lb n="pgo_181.027"/>
den einzelnen, nebeneinander gestellten Gedankenbestimmungen, wie im <lb n="pgo_181.028"/> <hi rendition="#g">Paradoxon,</hi> sondern zwischen dem <hi rendition="#g">Gedanken</hi> und seinem <hi rendition="#g">Ausdruck</hi> <lb n="pgo_181.029"/>
durch die Rede. Die Jronie ist die Heuchelei des Geistes, der das Nichtige <lb n="pgo_181.030"/>
vernichtet, indem er's preist, und das Hohe erhebt, indem er es <lb n="pgo_181.031"/>
herabsetzt. Jhre Stimmung beruht, wie der Reiz des Paradoxon, auf <lb n="pgo_181.032"/>
einem Widerspruche, dessen unmittelbare Lösung die Phantasie erfreut. <lb n="pgo_181.033"/>
Jn dieser einfachen Form war die Jronie schon den alten Klassikern <lb n="pgo_181.034"/>
geläufig! So verhöhnt Patroklos bei Homer den Kebriones, der, von <lb n="pgo_181.035"/>
seinem Stein getroffen, vom Wagensitz herabschießt:</p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[181/0203] pgo_181.001 Leicester. pgo_181.002 Wenn wir verderben, reißen wir sie nach. pgo_181.003 Mortimer. pgo_181.004 Wenn wir uns schonen, wird sie nicht gerettet. pgo_181.005 Schiller, Maria Stuart. pgo_181.006 7) Das Paradoxon, eine Redefigur, die scheinbar Unverträgliches pgo_181.007 durch eine tiefere Einheit des Gedankens zusammenkettet. Der Reiz dieser pgo_181.008 Figur liegt in der Kühnheit, mit welcher der Widerspruch hingestellt pgo_181.009 wird, und der stillen Freude, daß man den Schlüssel zu seiner Lösung pgo_181.010 in Händen hat. pgo_181.011 Das Paradoxon ist entweder blos logisch z. B. pgo_181.012 Du übersinnlich sinnlicher Freier. pgo_181.013 Goethe, Faust. pgo_181.014 Regular confusion. pgo_181.015 Addison, Cato. pgo_181.016 oder es ist metaphorisch z. B. pgo_181.017 Mond meiner Tage, meiner Nächte Sonne, pgo_181.018 Hoch über mir geh' Deinen Strahlenlauf. pgo_181.019 Dingelstedt. pgo_181.020 Die Vorliebe für das Zusammenfassen unverträglicher Bestimmungen, pgo_181.021 deren tiefere Einheit oft nur eine scheinbare ist, schafft den paradoxen pgo_181.022 Styl, der sich auch auf die Komposition größerer Kunstwerke bezieht. pgo_181.023 So ist Hebbel paradox im Entwurf seiner Dramen und in ihrer Charakteristik, pgo_181.024 während Arthur Schopenhauer ein paradoxer Denker ist. pgo_181.025 6) Die Jronie ist diejenige Redefigur, welche das Gegentheil von pgo_181.026 dem sagt, was sie meint *). Der Widerspruch besteht hier nicht zwischen pgo_181.027 den einzelnen, nebeneinander gestellten Gedankenbestimmungen, wie im pgo_181.028 Paradoxon, sondern zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck pgo_181.029 durch die Rede. Die Jronie ist die Heuchelei des Geistes, der das Nichtige pgo_181.030 vernichtet, indem er's preist, und das Hohe erhebt, indem er es pgo_181.031 herabsetzt. Jhre Stimmung beruht, wie der Reiz des Paradoxon, auf pgo_181.032 einem Widerspruche, dessen unmittelbare Lösung die Phantasie erfreut. pgo_181.033 Jn dieser einfachen Form war die Jronie schon den alten Klassikern pgo_181.034 geläufig! So verhöhnt Patroklos bei Homer den Kebriones, der, von pgo_181.035 seinem Stein getroffen, vom Wagensitz herabschießt: *) pgo_181.036 Ironia est alia dicentis et alia significantis dissimulatio. Cic. de Orat. 3.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/203
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/203>, abgerufen am 22.11.2024.