pgo_168.002 Die Hyperbel ist das Bild, das die Erscheinung über das Maaß pgo_168.003 der sinnlichen Wahrheit hinaus vergrößert, um dadurch den Gedanken pgo_168.004 zu erheben und zu verstärken. Die Neigung zum Hyperbolischen ist der pgo_168.005 menschlichen Natur angeboren; es liegt ebenso vielen gewöhnlichen Höflichkeitsformen pgo_168.006 zu Grunde, wie es einer lebhaften Empfindung, einer pgo_168.007 glühenden Leidenschaft, jedem von seinem Gegenstand durchdrungenen pgo_168.008 Gemüth stets zu Gebote steht. Die Hyperbel setzt allerdings eine Versündigung pgo_168.009 gegen die sinnliche Wahrheit voraus, welche eine Bedingung pgo_168.010 der künstlerischen Schönheit ist; aber mit der erregten Seele wachsen auch pgo_168.011 die Dimensionen ihrer Bilder, und der Vergrößerungsspiegel der Begeisterung pgo_168.012 und der Leidenschaft zeigt Jedem, der hineinsieht, dasselbe Bild. pgo_168.013 Diese subjective Wahrheit hat in der Poesie dasselbe Recht, wie die pgo_168.014 objektive. Je heftiger die Leidenschaft, desto grandioser werden ihre pgo_168.015 Hyperbeln.
pgo_168.016 Wir unterscheiden zunächst die naive Hyperbel von der Hyperbel pgo_168.017 der Reflexion. Jn der naiven Hyperbel glaubt die Phantasie pgo_168.018 selbst an das Uebermaaß der Erscheinung und stellt dies ohne jeden pgo_168.019 Zusatz als selbstverständlich hin. Diese Hyperbel finden wir in der pgo_168.020 Symbolik der orientalischen Religionen, besonders der Jndischen, welche pgo_168.021 durch diese Uebertreibungen des Bildes das Göttliche würdig darzustellen pgo_168.022 glaubten. Hierher gehören jene hyperbolischen Zahlen der indischen pgo_168.023 Mythologie. Hundert Jahre lang liegt Sivas mit Uma in ehelicher pgo_168.024 Umarmung; Sagaras hat 60000 Söhne, die in einem Kürbiß zur pgo_168.025 Welt kommen; Ansumao unterzieht sich 32000 Jahre lang den strengsten pgo_168.026 Büßungen auf dem Gipfel des Himavan. Jn ähnlicher naiver Weise pgo_168.027 rühmen die großen nationalen Volksepen ihre Helden:
pgo_168.028
Was hat er nicht vollbracht! Bis an die Wogenpgo_168.029 Des Meers von Tschin wirft einen Pfeil sein Bogen.pgo_168.030 Das Krokodil im tiefsten Wasserschlunde,pgo_168.031 Der Panther stirbt vom Hauch aus seinem Munde.
pgo_168.032
Firdusi.
pgo_168.033
Jhn ergötzte die blutige Schlacht,pgo_168.034 Sein Arm war ein Donner des Himmels.
pgo_168.035
Ossian.
pgo_168.001 4. Die Hyperbel.
pgo_168.002 Die Hyperbel ist das Bild, das die Erscheinung über das Maaß pgo_168.003 der sinnlichen Wahrheit hinaus vergrößert, um dadurch den Gedanken pgo_168.004 zu erheben und zu verstärken. Die Neigung zum Hyperbolischen ist der pgo_168.005 menschlichen Natur angeboren; es liegt ebenso vielen gewöhnlichen Höflichkeitsformen pgo_168.006 zu Grunde, wie es einer lebhaften Empfindung, einer pgo_168.007 glühenden Leidenschaft, jedem von seinem Gegenstand durchdrungenen pgo_168.008 Gemüth stets zu Gebote steht. Die Hyperbel setzt allerdings eine Versündigung pgo_168.009 gegen die sinnliche Wahrheit voraus, welche eine Bedingung pgo_168.010 der künstlerischen Schönheit ist; aber mit der erregten Seele wachsen auch pgo_168.011 die Dimensionen ihrer Bilder, und der Vergrößerungsspiegel der Begeisterung pgo_168.012 und der Leidenschaft zeigt Jedem, der hineinsieht, dasselbe Bild. pgo_168.013 Diese subjective Wahrheit hat in der Poesie dasselbe Recht, wie die pgo_168.014 objektive. Je heftiger die Leidenschaft, desto grandioser werden ihre pgo_168.015 Hyperbeln.
pgo_168.016 Wir unterscheiden zunächst die naive Hyperbel von der Hyperbel pgo_168.017 der Reflexion. Jn der naiven Hyperbel glaubt die Phantasie pgo_168.018 selbst an das Uebermaaß der Erscheinung und stellt dies ohne jeden pgo_168.019 Zusatz als selbstverständlich hin. Diese Hyperbel finden wir in der pgo_168.020 Symbolik der orientalischen Religionen, besonders der Jndischen, welche pgo_168.021 durch diese Uebertreibungen des Bildes das Göttliche würdig darzustellen pgo_168.022 glaubten. Hierher gehören jene hyperbolischen Zahlen der indischen pgo_168.023 Mythologie. Hundert Jahre lang liegt Sivas mit Umâ in ehelicher pgo_168.024 Umarmung; Sagaras hat 60000 Söhne, die in einem Kürbiß zur pgo_168.025 Welt kommen; Ansumao unterzieht sich 32000 Jahre lang den strengsten pgo_168.026 Büßungen auf dem Gipfel des Himavàn. Jn ähnlicher naiver Weise pgo_168.027 rühmen die großen nationalen Volksepen ihre Helden:
pgo_168.028
Was hat er nicht vollbracht! Bis an die Wogenpgo_168.029 Des Meers von Tschin wirft einen Pfeil sein Bogen.pgo_168.030 Das Krokodil im tiefsten Wasserschlunde,pgo_168.031 Der Panther stirbt vom Hauch aus seinem Munde.
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Firdusi.
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Die Hyperbel ist das Bild, das die Erscheinung über das Maaß pgo_168.003
der sinnlichen Wahrheit hinaus vergrößert, um dadurch den Gedanken pgo_168.004
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/190>, abgerufen am 16.07.2024.
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