Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_156.001 man fragen, die Vertauschung des eigentlichen Ausdruckes mit dem pgo_156.009 uneigentlichen, da jener doch größere Klarheit und Deutlichkeit besitzt? pgo_156.010 Will die dichterische Rede sich blos durch diesen äußerlichen Zierrath von pgo_156.011 der prosaischen unterscheiden, sich künstlich über dieselbe erheben? Oder pgo_156.012 soll dieselbe Neigung der müßigen Phantasie, die sich im Errathen des pgo_156.013 Rebus und des Räthsels ein Fest bereitet, auch auf dem Gebiete der pgo_156.014 Dichtkunst durch die Metapher befriedigt werden? Nein, nicht äußerliche pgo_156.015 Rücksichten bestimmen den Dichter, die Metaphern in seinen Werken pgo_156.016 etwa so anzubringen, wie man bunte Laternen in einem illuminirten pgo_156.017 Garten an die Bäume hängt; auch wäre die Metapher fehlerhaft, die pgo_156.018 man wie ein Räthsel errathen müßte, die nicht ihre Bedeutung klar auf pgo_156.019 der Stirne trüge! Eine innere Nöthigung treibt die Phantasie zu dieser pgo_156.020 Vertauschung von Bild und Bedeutung, zu dieser unmittelbaren Versinnlichung pgo_156.021 des Geistigen und Vergeistigung des Sinnlichen, zu dieser beziehungsreichen pgo_156.022 Verwechslung der Erscheinungen. Jedes Dichtwerk ist ein pgo_156.023 bedeutungsvolles Bild, und was das Dichtwerk im Großen, ist die Metapher pgo_156.024 im Kleinen. Man kann die Metapher nur für überflüssig erklären, pgo_156.025 wenn man die Poesie für überflüssig erklärt. [Annotation] Jhre innere Nothwendigkeit pgo_156.026 für den Dichter zeigt schon der Dichtproceß selbst -- oder wer wollte glauben, pgo_156.027 daß ein Shakespeare mühsam auf die Metaphernjagd ausgegangen? pgo_156.028 Wer weiß nicht, daß der echte Dichter in Bildern denkt, daß sich ihm pgo_156.029 Alles unter der Hand in Metapherngold verwandelt? [Annotation] Man wird uns pgo_156.030 Homer, Sophokles und Goethe als Dichter, die an Metaphern arm sind, pgo_156.031 anführen; [Annotation] man wird sie den orientalischen Poeten, den Hymnensängern pgo_156.032 und Propheten der Bibel, einem Aeschylos und Pindar, einem Calderon, [Annotation] pgo_156.033 Shakespeare und Jean Paul und den modernen Lyrikern, besonders der pgo_156.034 österreichischen Dichterschule, entgegenstellen, bei denen allen die Metapherflora pgo_156.035 in üppigster Blüthe steht. [Annotation] Aber abgesehn davon, daß sich auch bei pgo_156.001 man fragen, die Vertauschung des eigentlichen Ausdruckes mit dem pgo_156.009 uneigentlichen, da jener doch größere Klarheit und Deutlichkeit besitzt? pgo_156.010 Will die dichterische Rede sich blos durch diesen äußerlichen Zierrath von pgo_156.011 der prosaischen unterscheiden, sich künstlich über dieselbe erheben? Oder pgo_156.012 soll dieselbe Neigung der müßigen Phantasie, die sich im Errathen des pgo_156.013 Rebus und des Räthsels ein Fest bereitet, auch auf dem Gebiete der pgo_156.014 Dichtkunst durch die Metapher befriedigt werden? Nein, nicht äußerliche pgo_156.015 Rücksichten bestimmen den Dichter, die Metaphern in seinen Werken pgo_156.016 etwa so anzubringen, wie man bunte Laternen in einem illuminirten pgo_156.017 Garten an die Bäume hängt; auch wäre die Metapher fehlerhaft, die pgo_156.018 man wie ein Räthsel errathen müßte, die nicht ihre Bedeutung klar auf pgo_156.019 der Stirne trüge! 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schlagend angewendet ist, an Energie und Kürze gewinnen. Sie ist eine pgo_156.003
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sind, gehören wahrlich nicht zu den weitschweifigen. Für die Dichtung pgo_156.005
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Shakespeare und Jean Paul und den modernen Lyrikern, besonders der pgo_156.034
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in üppigster Blüthe steht. Personen: Shakespeare, Jean Paul, moderne Lyriker, österreichische Dichterschule Aber abgesehn davon, daß sich auch bei
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Zitationshilfe: | Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/178>, abgerufen am 16.02.2025. |