pgo_IX.001 Weit entfernt, die Poesie des Alterthums zu verdammen oder zu ignoriren, pgo_IX.002 gehör' ich zu ihren wärmsten Verehrern, und diese Poetik mag Zeugniß pgo_IX.003 dafür ablegen, ob ich in ihren Geist eingedrungen. Nicht nur daß pgo_IX.004 die Wiedergeburt unserer Nationalliteratur unter den Auspicien der großen pgo_IX.005 Genien des Alterthums vollzogen worden ist -- sie vollzieht sich noch pgo_IX.006 immer, noch jeden Augenblick mit dem Hinblick auf diese großen Muster; pgo_IX.007 ja sie wird ihren höchsten Aufschwung erst durch ihr vollkommenes Verständniß pgo_IX.008 nehmen. Antike und moderne Poesie sind sich so wenig entgegengesetzt, pgo_IX.009 daß die moderne Poesie jene nur in ihrem Wesen, statt in pgo_IX.010 ihren Aeußerlichkeiten nachzuahmen braucht, um ihr gänzlich ebenbürtig pgo_IX.011 zu werden. Das Wesen der antiken Poesie aber war ihr vollständiges pgo_IX.012 Durchdrungensein vom Geiste des Alterthums, ihr vollständiges pgo_IX.013 Aufgehn in der Kultur der damaligen Gegenwart -- möge die moderne pgo_IX.014 Poesie sich ebenso vom Geiste ihrer Zeit durchdringen lassen, und sie ist pgo_IX.015 besser bei den Alten in die Schule gegangen, als wenn sie den lyrischen pgo_IX.016 Gedanken in Spondäen und Molossen erquetscht oder das Opfermesser pgo_IX.017 der antiken Tragödinnen mit feierlicher Würde schwingt und das Blut, pgo_IX.018 welches die Klytemnestren und Medeen vergossen, in ihrer dramatischen pgo_IX.019 Wanne auffängt. Jch habe daher die antike und moderne Poesie in diesem pgo_IX.020 Werke gleichmäßig berücksichtigt, Beispiele aus beiden nebeneinandergestellt; pgo_IX.021 ich habe der modernen Poesie gleichzeitig das ehrenvolle Piedestal pgo_IX.022 der antiken geben und die antike dem Verständniß der Gegenwart näherbringen pgo_IX.023 wollen, indem ich nicht die himmelweite Kluft statuirte, welche pgo_IX.024 die Gelehrsamkeit zwischen den alten Klassikern und den Dichtern der pgo_IX.025 Gegenwart aufreißt.
pgo_IX.026 Zwei Punkte mußten bei Abfassung des Werks mein Bedenken erregen: pgo_IX.027 zunächst, wieweit eine Poetik das Literarhistorische berücksichtigen, und pgo_IX.028 dann, wieweit sie die Mittheilung von Musterdichtungen, die Beispielsammlung, pgo_IX.029 ausdehnen dürfe? Was das Erste betrifft, so kann eine Poetik pgo_IX.030 unmöglich eine Geschichte der Poesie geben, ohne ihre abgesteckten Grenzen
pgo_IX.001 Weit entfernt, die Poesie des Alterthums zu verdammen oder zu ignoriren, pgo_IX.002 gehör' ich zu ihren wärmsten Verehrern, und diese Poetik mag Zeugniß pgo_IX.003 dafür ablegen, ob ich in ihren Geist eingedrungen. Nicht nur daß pgo_IX.004 die Wiedergeburt unserer Nationalliteratur unter den Auspicien der großen pgo_IX.005 Genien des Alterthums vollzogen worden ist — sie vollzieht sich noch pgo_IX.006 immer, noch jeden Augenblick mit dem Hinblick auf diese großen Muster; pgo_IX.007 ja sie wird ihren höchsten Aufschwung erst durch ihr vollkommenes Verständniß pgo_IX.008 nehmen. Antike und moderne Poesie sind sich so wenig entgegengesetzt, pgo_IX.009 daß die moderne Poesie jene nur in ihrem Wesen, statt in pgo_IX.010 ihren Aeußerlichkeiten nachzuahmen braucht, um ihr gänzlich ebenbürtig pgo_IX.011 zu werden. Das Wesen der antiken Poesie aber war ihr vollständiges pgo_IX.012 Durchdrungensein vom Geiste des Alterthums, ihr vollständiges pgo_IX.013 Aufgehn in der Kultur der damaligen Gegenwart — möge die moderne pgo_IX.014 Poesie sich ebenso vom Geiste ihrer Zeit durchdringen lassen, und sie ist pgo_IX.015 besser bei den Alten in die Schule gegangen, als wenn sie den lyrischen pgo_IX.016 Gedanken in Spondäen und Molossen erquetscht oder das Opfermesser pgo_IX.017 der antiken Tragödinnen mit feierlicher Würde schwingt und das Blut, pgo_IX.018 welches die Klytemnestren und Medeen vergossen, in ihrer dramatischen pgo_IX.019 Wanne auffängt. Jch habe daher die antike und moderne Poesie in diesem pgo_IX.020 Werke gleichmäßig berücksichtigt, Beispiele aus beiden nebeneinandergestellt; pgo_IX.021 ich habe der modernen Poesie gleichzeitig das ehrenvolle Piedestal pgo_IX.022 der antiken geben und die antike dem Verständniß der Gegenwart näherbringen pgo_IX.023 wollen, indem ich nicht die himmelweite Kluft statuirte, welche pgo_IX.024 die Gelehrsamkeit zwischen den alten Klassikern und den Dichtern der pgo_IX.025 Gegenwart aufreißt.
pgo_IX.026 Zwei Punkte mußten bei Abfassung des Werks mein Bedenken erregen: pgo_IX.027 zunächst, wieweit eine Poetik das Literarhistorische berücksichtigen, und pgo_IX.028 dann, wieweit sie die Mittheilung von Musterdichtungen, die Beispielsammlung, pgo_IX.029 ausdehnen dürfe? Was das Erste betrifft, so kann eine Poetik pgo_IX.030 unmöglich eine Geschichte der Poesie geben, ohne ihre abgesteckten Grenzen
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pgo_IX.001
Weit entfernt, die Poesie des Alterthums zu verdammen oder zu ignoriren, pgo_IX.002
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Aufgehn in der Kultur der damaligen Gegenwart — möge die moderne pgo_IX.014
Poesie sich ebenso vom Geiste ihrer Zeit durchdringen lassen, und sie ist pgo_IX.015
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Werke gleichmäßig berücksichtigt, Beispiele aus beiden nebeneinandergestellt; pgo_IX.021
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Zwei Punkte mußten bei Abfassung des Werks mein Bedenken erregen: pgo_IX.027
zunächst, wieweit eine Poetik das Literarhistorische berücksichtigen, und pgo_IX.028
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/15>, abgerufen am 21.11.2024.
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