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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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"Julie." Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere pgo_125.002
nicht hineindenken, weil sie zu sehr der Sitte und dem natürlichen pgo_125.003
Empfinden widerspricht. Welch' ein grenzenloses Raffinement liegt in pgo_125.004
dem Benehmen einer Clara, die ihre Jungfräulichkeit aus Berechnung pgo_125.005
opfert, um sich die Treue des Geliebten zu sichern! Abgesehen davon, pgo_125.006
daß diese Berechnung nicht gerade von scharfem Verstande zeugt -- welch' pgo_125.007
einen Charakter, der allem Mädchenhaften widerspricht, setzt dies spekulative pgo_125.008
stuprum voraus! Wenn uns Hebbel dennoch seine Heldin als pgo_125.009
ein Wesen von zarter und schwärmerischer Empfindung schildert: so ist pgo_125.010
entweder die That, welche die Voraussetzung des ganzen Stückes ist, pgo_125.011
unmotivirt, oder der Charakter der Heldin selbst. Noch anomaler sind pgo_125.012
alle Voraussetzungen der "Julia" -- nur daß die Handlung hier sich mit pgo_125.013
jener folgerichtigen Absurdität entwickelt, die mit Nothwendigkeit aus pgo_125.014
dem Zusammenwirken lauter mit Spleen und Sparren behafteter Charaktere pgo_125.015
hervorgeht.

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Der Dichter thut indeß wenig, wenn er nur die Folgerichtigkeit der pgo_125.017
Wirklichkeit beobachtet. Die Motivirung muß selbst ideal dem Geiste pgo_125.018
des Dichtwerkes entsprechen. Die Geschichte giebt oft einen Kausalnexus pgo_125.019
an die Hand, den der Dichter nicht brauchen kann, weil ihm die ideale pgo_125.020
Würde fehlt. Das Abschreiben der Wirklichkeit würde hier nur eine pgo_125.021
Tragikomödie erzeugen. Ein Tragödiendichter, der z. B. eine Verschwörung, pgo_125.022
eine großartige Staatsaction darstellen und dazu die Motive wählen pgo_125.023
wollte, die in der Restaurationszeit einen Plaignier zu einer Verschwörung pgo_125.024
gegen die Bourbons trieben, würde sich lächerlich machen, wie pgo_125.025
verbürgt auch immer ihre historische Wahrheit sei. Dieser Plaignier pgo_125.026
verschwor sich nämlich, wie uns Veron in seinen Memoiren erzählt, gegen pgo_125.027
Ludwig XVIII., weil seine Erfindung, die bottes a la hussarde, welche pgo_125.028
Kaiser Napoleon für die leichte Cavallerie anbefohlen hatte, von der pgo_125.029
Restauration wieder abgeschafft worden waren. Die Verschwörung wurde pgo_125.030
entdeckt und Plaignier hingerichtet. Eine Verschwörung mit solchem pgo_125.031
Ausgang ist ein tragischer Vorwurf; aber der Tragödiendichter kann sie pgo_125.032
nicht durch ein Verbot von Stiefelschäften und eine gekränkte Schuhmacherseele pgo_125.033
motiviren. Jm Lustspiele und im Roman muß die Motivirung pgo_125.034
mehr in's Einzelne gehen, als in der Tragödie, wo der ideale Flug pgo_125.035
der Gestalten leichter über die kleinen Zusammenhänge des realen Lebens

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Julie.“ Wir können uns in die Handlungsweise dieser Charaktere pgo_125.002
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Der Dichter thut indeß wenig, wenn er nur die Folgerichtigkeit der pgo_125.017
Wirklichkeit beobachtet. Die Motivirung muß selbst ideal dem Geiste pgo_125.018
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Kaiser Napoleon für die leichte Cavallerie anbefohlen hatte, von der pgo_125.029
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Ausgang ist ein tragischer Vorwurf; aber der Tragödiendichter kann sie pgo_125.032
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/147>, abgerufen am 25.11.2024.