pgo_123.001 keusche und verschwiegene sein; der Satz vom Grunde muß nur als stillwirkende pgo_123.002 Kraft dem Zusammenhang des Kunstwerkes, wie dem der Natur pgo_123.003 untergebreitet sein; eine aufdringliche Motivirung hebt uns aus dem pgo_123.004 freien Aether der Poesie in das Reich der Prosa. Man muß nicht Alles,pgo_123.005 und man muß nicht zuviel motiviren wollen. Durch das erstere erhält pgo_123.006 das Kunstwerk einen kleinlichen, durch das letztere einen unklarenpgo_123.007 Charakter. Jn der Tragödie sind kleinliche Coulissenmotivirungen, wie pgo_123.008 wir sie in französischen Stücken finden, nicht berechtigt. Shakespeare pgo_123.009 und Schiller motiviren immer nur mit großen Zügen. Ja, Shakespeare pgo_123.010 motivirt oft zu wenig, wie er uns z. B. in Hamlet das Verhältniß zwischen pgo_123.011 dem Helden und seiner Ophelia nur durch Andeutungen klar macht, pgo_123.012 welche eine verschiedene Auffassung von Seiten der Ausleger hervorgerufen pgo_123.013 haben. Wer aber zuviel motivirt, z. B. im Drama einer Handlung pgo_123.014 mehrere gleichzeitige Beweggründe unterschiebt, der beleuchtet ein Bildpgo_123.015 mit mehreren Kerzen, deren sich kreuzender Glanz die Klarheit aufhebt.
pgo_123.016
pgo_123.017 Die Motivirung muß folgerichtig sein; sie darf weder gegen die pgo_123.018 Logik des Naturgesetzes, noch gegen die des menschlichen Herzens verstoßen. pgo_123.019 Jn der Naturschilderung verlangen wir Treue und Korrectheit; pgo_123.020 wir wollen die Blumen nicht in einer Jahreszeit blühen sehen, in der sie pgo_123.021 in der Wirklichkeit nicht einmal Knospen treiben; das Kolorit eines exotischen pgo_123.022 Klima's muß uns mit jener Treue geschildert werden, welche der pgo_123.023 Physiognomik der Gewächse und der Pflanzengeographie Rechnung trägt. pgo_123.024 Der Lyriker, der seine Stimmung an ein Naturbild knüpft, muß ebenfalls pgo_123.025 diese innerlich waltende Motivirung beobachten. Jn der Ode können pgo_123.026 kühne Uebergänge der Gedanken und Empfindungen Statt finden; aber pgo_123.027 die Ergänzung der ausgelassenen Bilder, die Begründung ihres Zusammenhanges pgo_123.028 muß der Phantasie möglich sein, indem die Zwischenglieder pgo_123.029 schon durch den Organismus des Ganzen mitgegeben und gleichsam mit pgo_123.030 einer unsichtbaren Tinte geschrieben sind, die durch die Reagentien einer pgo_123.031 feurig erregten Phantasie hervortritt. Selbst in der Welt des Phantastischen pgo_123.032 und Märchenhaften muß eine gewisse Folgerichtigkeit vorherrschen, pgo_123.033 die den einmal angenommenen Voraussetzungen treu bleibt. Die traumhaft pgo_123.034 verzauberte Natur hört deshalb nicht auf, Natur zu sein -- und pgo_123.035 rückwärts fließende Bäche, wie in dem "Märchen vom Tannenbaum"
pgo_123.001 keusche und verschwiegene sein; der Satz vom Grunde muß nur als stillwirkende pgo_123.002 Kraft dem Zusammenhang des Kunstwerkes, wie dem der Natur pgo_123.003 untergebreitet sein; eine aufdringliche Motivirung hebt uns aus dem pgo_123.004 freien Aether der Poesie in das Reich der Prosa. Man muß nicht Alles,pgo_123.005 und man muß nicht zuviel motiviren wollen. Durch das erstere erhält pgo_123.006 das Kunstwerk einen kleinlichen, durch das letztere einen unklarenpgo_123.007 Charakter. Jn der Tragödie sind kleinliche Coulissenmotivirungen, wie pgo_123.008 wir sie in französischen Stücken finden, nicht berechtigt. Shakespeare pgo_123.009 und Schiller motiviren immer nur mit großen Zügen. Ja, Shakespeare pgo_123.010 motivirt oft zu wenig, wie er uns z. B. in Hamlet das Verhältniß zwischen pgo_123.011 dem Helden und seiner Ophelia nur durch Andeutungen klar macht, pgo_123.012 welche eine verschiedene Auffassung von Seiten der Ausleger hervorgerufen pgo_123.013 haben. Wer aber zuviel motivirt, z. B. im Drama einer Handlung pgo_123.014 mehrere gleichzeitige Beweggründe unterschiebt, der beleuchtet ein Bildpgo_123.015 mit mehreren Kerzen, deren sich kreuzender Glanz die Klarheit aufhebt.
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pgo_123.017 Die Motivirung muß folgerichtig sein; sie darf weder gegen die pgo_123.018 Logik des Naturgesetzes, noch gegen die des menschlichen Herzens verstoßen. pgo_123.019 Jn der Naturschilderung verlangen wir Treue und Korrectheit; pgo_123.020 wir wollen die Blumen nicht in einer Jahreszeit blühen sehen, in der sie pgo_123.021 in der Wirklichkeit nicht einmal Knospen treiben; das Kolorit eines exotischen pgo_123.022 Klima's muß uns mit jener Treue geschildert werden, welche der pgo_123.023 Physiognomik der Gewächse und der Pflanzengeographie Rechnung trägt. pgo_123.024 Der Lyriker, der seine Stimmung an ein Naturbild knüpft, muß ebenfalls pgo_123.025 diese innerlich waltende Motivirung beobachten. Jn der Ode können pgo_123.026 kühne Uebergänge der Gedanken und Empfindungen Statt finden; aber pgo_123.027 die Ergänzung der ausgelassenen Bilder, die Begründung ihres Zusammenhanges pgo_123.028 muß der Phantasie möglich sein, indem die Zwischenglieder pgo_123.029 schon durch den Organismus des Ganzen mitgegeben und gleichsam mit pgo_123.030 einer unsichtbaren Tinte geschrieben sind, die durch die Reagentien einer pgo_123.031 feurig erregten Phantasie hervortritt. Selbst in der Welt des Phantastischen pgo_123.032 und Märchenhaften muß eine gewisse Folgerichtigkeit vorherrschen, pgo_123.033 die den einmal angenommenen Voraussetzungen treu bleibt. Die traumhaft pgo_123.034 verzauberte Natur hört deshalb nicht auf, Natur zu sein — und pgo_123.035 rückwärts fließende Bäche, wie in dem „Märchen vom Tannenbaum“
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keusche und verschwiegene sein; der Satz vom Grunde muß nur als stillwirkende pgo_123.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/145>, abgerufen am 22.11.2024.
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