pgo_115.001 schürzen, in welchem sie in Eins verschmelzen. Bei tieferer Betrachtung pgo_115.002 zeigt sich dann, daß diese beiden Handlungen nur concentrische Kreise pgo_115.003 waren, welche von Anfang an denselben Mittelpunkt der Jdee hatten. pgo_115.004 So scheinen z. B. "im Kaufmann von Venedig" zwei nur locker verknüpfte pgo_115.005 Handlungen nebeneinander herzugehen: das Darlehn, das der pgo_115.006 Jude Shylock dem Antonio gab, mit seinen Folgen, und die Werbung der pgo_115.007 Freier um die schöne Portia. Jn der That scheinen ihre Reflexionen vor pgo_115.008 den geheimnißvollen Kästchen einen selbstständigen, die Hauptentwickelung pgo_115.009 beeinträchtigenden Raum einzunehmen. Wie gewandt ist nun die Vereinigung pgo_115.010 beider Handlungen und die Lösung des Knotens durch den pgo_115.011 eigenthümlich kecken und geistreichen Charakter der Portia herbeigeführt! pgo_115.012 Nun geht auch plötzlich die Grundidee des ganzen Stückes dem Auge pgo_115.013 auf, der Triumph des Geistes über das todte formale Recht, das sich in pgo_115.014 jener sinnigen Testamentsverordnung, wie in diesem brutalen Schuldgesetz pgo_115.015 ausspricht.
pgo_115.016 Die Nebenhandlung, die ein selbstständiges Jnteresse für sich in pgo_115.017 Anspruch nimmt, immer aber der Haupthandlung untergeordnet bleibt, pgo_115.018 heißt Episode. Zum Begriff der Episode gehört nothwendig, daß pgo_115.019 die Haupthandlung auch ohne sie bestehen könnte; sie ist kein organisches pgo_115.020 Glied derselben, sondern nur locker mit ihr verknüpft. Jhre Berechtigung pgo_115.021 ist je nach den verschiedenen Dichtgattungen eine verschiedene, größer im pgo_115.022 Epos, geringer im Drama. Die kleinere Episode ist oft nur Verzierung, pgo_115.023 wie der Erker in der Baukunst, die Coloratur in der Musik! Oft ist sie pgo_115.024 Ruhepunkt, indem auch der energisch fortschreitende Gang des Drama's pgo_115.025 solcher Stationen zur Umschau oder Einkehr bedarf; oft dient sie dazu, pgo_115.026 die Stimmung und Atmosphäre des geschichtlichen Hintergrundes pgo_115.027 anschaulich zu machen oder das Charakterbild des Helden selbst durch pgo_115.028 einen Zug zu ergänzen, der für den Fortgang der Handlung nicht unbedingt pgo_115.029 wesentlich ist. Hier ist natürlich das strengste Maaßhalten vonnöthen, pgo_115.030 damit das Drama nicht zu einem bloßen Charaktergemälde wird, pgo_115.031 wozu die neuere Zeit nach Shakespeare's Vorgang neigt. Jm "Wilhelm pgo_115.032 Tell" ist nach strengem dramatischem Gesetz nicht blos Bertha und Rudenz, pgo_115.033 sondern auch der ganze Rütli eine Episode! Die Befreiung des Schweizer pgo_115.034 Volkes, die man als Thema dieses Drama's angiebt, ist Stoff für pgo_115.035 ein Epos, nicht für ein Drama. Die echt dramatische Handlung im
pgo_115.001 schürzen, in welchem sie in Eins verschmelzen. Bei tieferer Betrachtung pgo_115.002 zeigt sich dann, daß diese beiden Handlungen nur concentrische Kreise pgo_115.003 waren, welche von Anfang an denselben Mittelpunkt der Jdee hatten. pgo_115.004 So scheinen z. B. „im Kaufmann von Venedig“ zwei nur locker verknüpfte pgo_115.005 Handlungen nebeneinander herzugehen: das Darlehn, das der pgo_115.006 Jude Shylock dem Antonio gab, mit seinen Folgen, und die Werbung der pgo_115.007 Freier um die schöne Portia. Jn der That scheinen ihre Reflexionen vor pgo_115.008 den geheimnißvollen Kästchen einen selbstständigen, die Hauptentwickelung pgo_115.009 beeinträchtigenden Raum einzunehmen. Wie gewandt ist nun die Vereinigung pgo_115.010 beider Handlungen und die Lösung des Knotens durch den pgo_115.011 eigenthümlich kecken und geistreichen Charakter der Portia herbeigeführt! pgo_115.012 Nun geht auch plötzlich die Grundidee des ganzen Stückes dem Auge pgo_115.013 auf, der Triumph des Geistes über das todte formale Recht, das sich in pgo_115.014 jener sinnigen Testamentsverordnung, wie in diesem brutalen Schuldgesetz pgo_115.015 ausspricht.
pgo_115.016 Die Nebenhandlung, die ein selbstständiges Jnteresse für sich in pgo_115.017 Anspruch nimmt, immer aber der Haupthandlung untergeordnet bleibt, pgo_115.018 heißt Episode. Zum Begriff der Episode gehört nothwendig, daß pgo_115.019 die Haupthandlung auch ohne sie bestehen könnte; sie ist kein organisches pgo_115.020 Glied derselben, sondern nur locker mit ihr verknüpft. Jhre Berechtigung pgo_115.021 ist je nach den verschiedenen Dichtgattungen eine verschiedene, größer im pgo_115.022 Epos, geringer im Drama. Die kleinere Episode ist oft nur Verzierung, pgo_115.023 wie der Erker in der Baukunst, die Coloratur in der Musik! Oft ist sie pgo_115.024 Ruhepunkt, indem auch der energisch fortschreitende Gang des Drama's pgo_115.025 solcher Stationen zur Umschau oder Einkehr bedarf; oft dient sie dazu, pgo_115.026 die Stimmung und Atmosphäre des geschichtlichen Hintergrundes pgo_115.027 anschaulich zu machen oder das Charakterbild des Helden selbst durch pgo_115.028 einen Zug zu ergänzen, der für den Fortgang der Handlung nicht unbedingt pgo_115.029 wesentlich ist. Hier ist natürlich das strengste Maaßhalten vonnöthen, pgo_115.030 damit das Drama nicht zu einem bloßen Charaktergemälde wird, pgo_115.031 wozu die neuere Zeit nach Shakespeare's Vorgang neigt. Jm „Wilhelm pgo_115.032 Tell“ ist nach strengem dramatischem Gesetz nicht blos Bertha und Rudenz, pgo_115.033 sondern auch der ganze Rütli eine Episode! Die Befreiung des Schweizer pgo_115.034 Volkes, die man als Thema dieses Drama's angiebt, ist Stoff für pgo_115.035 ein Epos, nicht für ein Drama. Die echt dramatische Handlung im
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schürzen, in welchem sie in Eins verschmelzen. Bei tieferer Betrachtung pgo_115.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/137>, abgerufen am 22.11.2024.
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