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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Welt in die Stimmungen des Dichtergemüthes flüchten zu können! Hierher pgo_103.002
gehört auch eine metaphysische Poetik, welche ihre Jdeeen und Begriffe pgo_103.003
nicht in Gestalten umsetzen kann; hierher die klassische Nachdichterei, welche pgo_103.004
Formen, die einer anderen Welt angehören, der Gegenwart aufzuzwingen pgo_103.005
sucht.

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Nur die echte Durchdringung von Natur und Geist, Jdealismus und pgo_103.007
Realismus im Bunde schaffen das wahrhaft schöne Dichtwerk! Da pgo_103.008
aber alle Dichtung aus dem Geiste hervorgeht, eine freie Schöpfung des pgo_103.009
Geistes ist: so hat das Princip des Jdealismus höhere Berechtigung als pgo_103.010
das des Realismus, welcher diesen freischaffenden Geist an die Galeerenbank pgo_103.011
der Wirklichkeit schmiedet und zur sclavischen Nachahmung der pgo_103.012
Natur verdammt.



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Vierter Abschnitt.
pgo_103.014
Der Dichter und der Zeitgeist.

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Der dichterische Genius gehört einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte pgo_103.016
an, und seine wahre Bedeutung besteht darin, dem Geist dieser pgo_103.017
Epoche einen vollkommenen und ewigen Ausdruck zu geben. Das ist pgo_103.018
die Größe von Homer und Sophokles, Dante und Calderon, Shakespeare pgo_103.019
und Schiller! Der Genius kann seiner Zeit vorleuchten, aber sie nur pgo_103.020
giebt ihm die Fackel in die Hand. Er vereinigt in sich alle Lebens- pgo_103.021
und Gedankenfülle seines Jahrhunderts und giebt ihr sein eigenes pgo_103.022
Gepräge.

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Die Dichter des Alterthums und des Mittelalters waren von dieser pgo_103.024
Wahrheit unmittelbar durchdrungen! Naive Kinder ihrer Zeit schwankten pgo_103.025
sie nicht in der Wahl und Behandlung ihrer Stoffe, sondern der Puls pgo_103.026
ihrer schöpferischen Thätigkeit richtete sich nach dem Herzschlag ihres Zeitalters. pgo_103.027
Erst der neueren Zeit war es vorbehalten, jenen Dilettantismus pgo_103.028
zu erzeugen, der sich in alle erdenklichen Weltanschauungen hineinphantasirt pgo_103.029
und alle Formen nachahmt, selbst wenn ihre Seele längst entflohen. pgo_103.030
Das moderne Jdeal aber hat ebenso seine Berechtigung, wie pgo_103.031
das antike und mittelalterliche, auf welche wir einen flüchtigen Blick pgo_103.032
werfen wollen.

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Vierter Abschnitt.
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Der Dichter und der Zeitgeist.

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Der dichterische Genius gehört einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte pgo_103.016
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und Gedankenfülle seines Jahrhunderts und giebt ihr sein eigenes pgo_103.022
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[103/0125] pgo_103.001 Welt in die Stimmungen des Dichtergemüthes flüchten zu können! Hierher pgo_103.002 gehört auch eine metaphysische Poetik, welche ihre Jdeeen und Begriffe pgo_103.003 nicht in Gestalten umsetzen kann; hierher die klassische Nachdichterei, welche pgo_103.004 Formen, die einer anderen Welt angehören, der Gegenwart aufzuzwingen pgo_103.005 sucht. pgo_103.006 Nur die echte Durchdringung von Natur und Geist, Jdealismus und pgo_103.007 Realismus im Bunde schaffen das wahrhaft schöne Dichtwerk! Da pgo_103.008 aber alle Dichtung aus dem Geiste hervorgeht, eine freie Schöpfung des pgo_103.009 Geistes ist: so hat das Princip des Jdealismus höhere Berechtigung als pgo_103.010 das des Realismus, welcher diesen freischaffenden Geist an die Galeerenbank pgo_103.011 der Wirklichkeit schmiedet und zur sclavischen Nachahmung der pgo_103.012 Natur verdammt. pgo_103.013 Vierter Abschnitt. pgo_103.014 Der Dichter und der Zeitgeist. pgo_103.015 Der dichterische Genius gehört einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte pgo_103.016 an, und seine wahre Bedeutung besteht darin, dem Geist dieser pgo_103.017 Epoche einen vollkommenen und ewigen Ausdruck zu geben. Das ist pgo_103.018 die Größe von Homer und Sophokles, Dante und Calderon, Shakespeare pgo_103.019 und Schiller! Der Genius kann seiner Zeit vorleuchten, aber sie nur pgo_103.020 giebt ihm die Fackel in die Hand. Er vereinigt in sich alle Lebens- pgo_103.021 und Gedankenfülle seines Jahrhunderts und giebt ihr sein eigenes pgo_103.022 Gepräge. pgo_103.023 Die Dichter des Alterthums und des Mittelalters waren von dieser pgo_103.024 Wahrheit unmittelbar durchdrungen! Naive Kinder ihrer Zeit schwankten pgo_103.025 sie nicht in der Wahl und Behandlung ihrer Stoffe, sondern der Puls pgo_103.026 ihrer schöpferischen Thätigkeit richtete sich nach dem Herzschlag ihres Zeitalters. pgo_103.027 Erst der neueren Zeit war es vorbehalten, jenen Dilettantismus pgo_103.028 zu erzeugen, der sich in alle erdenklichen Weltanschauungen hineinphantasirt pgo_103.029 und alle Formen nachahmt, selbst wenn ihre Seele längst entflohen. pgo_103.030 Das moderne Jdeal aber hat ebenso seine Berechtigung, wie pgo_103.031 das antike und mittelalterliche, auf welche wir einen flüchtigen Blick pgo_103.032 werfen wollen.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/125>, abgerufen am 22.11.2024.