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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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an den Händen der Kinder ausgedrückt wird -- solche realistische pgo_101.002
Lebensbilder entbehren zu sehr der Wiedergeburt aus dem Geiste, um pgo_101.003
einen anderen als ernüchternden Eindruck zu machen. Ebenso verkehrt pgo_101.004
ist das Verlangen, das der Realismus an die Tragödie stellt: sie solle die pgo_101.005
Weltgeschichte kopiren! Das Vorbild, das Shakespeare in seinem historischen pgo_101.006
Dramencyklus gab, ist durchaus nicht nachahmenswerth; es fehlt pgo_101.007
diesen Dramen die centrale Einheit des Kunstwerkes, und die meisten derselben pgo_101.008
stehen an der Peripherie, nicht im Centrum des Shakespeare'schen pgo_101.009
Genius. Der Weltgeist verfolgt in der Geschichte andere Zwecke, als die pgo_101.010
Schönheit -- für diese hat er im Geist des Künstlers ein Asyl begründet, pgo_101.011
der die Geschichte, wo er sie erfaßt, mit seinem Feuer läutern muß.

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Der Realismus als durchgreifendes Stylprincip kann in der Dichtkunst pgo_101.013
nur zu Verirrungen führen. Dagegen ist er vollkommen berechtigt, pgo_101.014
wo er sich in den Dienst der Jdee begiebt und die von ihr durchleuchtete pgo_101.015
Welt in ihrer ganzen Wahrheit darstellt. Jn dieser Weise waren Homer pgo_101.016
und Shakespeare, Goethe und Jean Paul Realisten! Sie hatten den pgo_101.017
Sinn für alle Formen und Farben der Wirklichkeit, aber der durchscheinende pgo_101.018
Untergrund der Jdee hob und verklärte ihre bunte und vielbewegte pgo_101.019
Welt! Eine eigenthümliche Abart des Realismus ist der phantastische, pgo_101.020
wie er sich z. B. in den Werken der romantischen Schule offenbarte. pgo_101.021
Obgleich hier die gewöhnlichen Bedingungen des verstandesmäßigen pgo_101.022
Zusammenhanges der Erscheinungen aufgegeben waren: so bewegte sich pgo_101.023
doch im Aether dieser Traumwelt ein recht derber Realismus, dessen pgo_101.024
Vignette der Weber "Zettel" mit seinem angezauberten Eselskopf ist.

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Gegenüber der eifrigen Propaganda, welche in Lehre und Beispiel pgo_101.026
den Realismus in den Vordergrund unserer Literatur zu drängen sucht, pgo_101.027
ist es an der Zeit, die Rechte des Jdealismus und einer Poesie des Geistes pgo_101.028
zu wahren, gegen deren Verirrungen wir nicht blind sind, die aber pgo_101.029
doch das künstlerische Princip tiefer faßt, als jene Richtung, die nur einer pgo_101.030
geistverlassenen Wirklichkeit huldigt. Man mag gegen Schiller und seine pgo_101.031
Schule polemisiren, soviel man will, man mag die philosophischen Ausschreitungen pgo_101.032
in der Lyrik, den mehr gedankenvollen, als sinnlich kräftigen pgo_101.033
Ausdruck seiner dramatischen Helden tadeln -- dennoch ist nicht zu leugnen, pgo_101.034
daß der Jdealismus nicht nur dem deutschen Volke näher steht, pgo_101.035
inniger mit seinem ganzen Geistes- und Gemüthsleben verwachsen ist,

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an den Händen der Kinder ausgedrückt wird — solche realistische pgo_101.002
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der die Geschichte, wo er sie erfaßt, mit seinem Feuer läutern muß.

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Der Realismus als durchgreifendes Stylprincip kann in der Dichtkunst pgo_101.013
nur zu Verirrungen führen. Dagegen ist er vollkommen berechtigt, pgo_101.014
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doch im Aether dieser Traumwelt ein recht derber Realismus, dessen pgo_101.024
Vignette der Weber „Zettel“ mit seinem angezauberten Eselskopf ist.

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Gegenüber der eifrigen Propaganda, welche in Lehre und Beispiel pgo_101.026
den Realismus in den Vordergrund unserer Literatur zu drängen sucht, pgo_101.027
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doch das künstlerische Princip tiefer faßt, als jene Richtung, die nur einer pgo_101.030
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Ausdruck seiner dramatischen Helden tadeln — dennoch ist nicht zu leugnen, pgo_101.034
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/123>, abgerufen am 24.11.2024.