pgo_098.001 Tollhauses nur durch jene hohe, Alles durchdringende Besonnenheit gesondert pgo_098.002 ist, ohne welche sich freilich Shakespeare nicht von seinem Lear und pgo_098.003 seiner Ophelia unterscheiden würde!
pgo_098.004
Dritter Abschnitt.
pgo_098.005 Jdealismus und Realismus.
pgo_098.006 Jndem die productive Phantasie einen Stoff aus der dichterischen pgo_098.007 Stoffwelt herausgreift und gestaltet, schafft sie das Kunstwerk, die pgo_098.008 Dichtung. Ehe wir indeß seine Form und Gliederung näher betrachten, pgo_098.009 müssen wir noch die allgemeinen Principien dichterischer Behandlungsweise pgo_098.010 in's Auge fassen. Hier bieten sich uns zunächst die beiden pgo_098.011 großen Gegensätze des Styls dar, die aus der Weltanschauung des Dichters pgo_098.012 hervorgehen, und deren Kampf in der neuesten Literatur heftiger als pgo_098.013 je entbrannt ist -- wir meinen den Jdealismus und Realismus.
pgo_098.014 Der Realismus geht von der Nachahmung der Natur und der pgo_098.015 Wirklichkeit aus, der Jdealismus von der Welt der Jdeeen, vom Reiche pgo_098.016 des Geistes. Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem pgo_098.017 die geistlose Natur herrscht; der einseitige Jdealismus eins, in welchem pgo_098.018 der naturlose Geist herrscht. Nur der Bund von Beiden kann das pgo_098.019 Schöne, die erscheinende Jdee, in ein wahres Kunstwerk bannen, in welchem, pgo_098.020 je nach der Richtung der Zeit und der Begabung der Talente, wohl pgo_098.021 der eine oder der andere zu einem Uebergewicht kommen kann, ohne indeß pgo_098.022 die Harmonie aufzuheben. So herrscht z. B. bei Goethe der Realismus, pgo_098.023 bei Schiller der Jdealismus vor, aber nicht bis zu einseitiger Störung; pgo_098.024 denn Goethe hat einen "Faust" geschrieben und Schiller "Wallenstein's pgo_098.025 Lager." Jn der neuesten Zeit ist indeß der Realismus die Parole der pgo_098.026 Kritik und die Losung des Tages geworden; er ist in einen ästhetischen pgo_098.027 Materialismus ausgeartet; man hat den Jdealismus als Geisterseherei pgo_098.028 geächtet und sucht sich überhaupt vom "Geist" nach Art des Proktophantasmisten pgo_098.029 im "Faust" zu curiren, von dem Mephistopheles sagt:
pgo_098.030
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,pgo_098.031 Das ist die Art, wie er sich soulagirt,pgo_098.032 Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,pgo_098.033 Jst er von Geistern und vom Geist curirt. --
pgo_098.001 Tollhauses nur durch jene hohe, Alles durchdringende Besonnenheit gesondert pgo_098.002 ist, ohne welche sich freilich Shakespeare nicht von seinem Lear und pgo_098.003 seiner Ophelia unterscheiden würde!
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pgo_098.005 Jdealismus und Realismus.
pgo_098.006 Jndem die productive Phantasie einen Stoff aus der dichterischen pgo_098.007 Stoffwelt herausgreift und gestaltet, schafft sie das Kunstwerk, die pgo_098.008 Dichtung. Ehe wir indeß seine Form und Gliederung näher betrachten, pgo_098.009 müssen wir noch die allgemeinen Principien dichterischer Behandlungsweise pgo_098.010 in's Auge fassen. Hier bieten sich uns zunächst die beiden pgo_098.011 großen Gegensätze des Styls dar, die aus der Weltanschauung des Dichters pgo_098.012 hervorgehen, und deren Kampf in der neuesten Literatur heftiger als pgo_098.013 je entbrannt ist — wir meinen den Jdealismus und Realismus.
pgo_098.014 Der Realismus geht von der Nachahmung der Natur und der pgo_098.015 Wirklichkeit aus, der Jdealismus von der Welt der Jdeeen, vom Reiche pgo_098.016 des Geistes. Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem pgo_098.017 die geistlose Natur herrscht; der einseitige Jdealismus eins, in welchem pgo_098.018 der naturlose Geist herrscht. Nur der Bund von Beiden kann das pgo_098.019 Schöne, die erscheinende Jdee, in ein wahres Kunstwerk bannen, in welchem, pgo_098.020 je nach der Richtung der Zeit und der Begabung der Talente, wohl pgo_098.021 der eine oder der andere zu einem Uebergewicht kommen kann, ohne indeß pgo_098.022 die Harmonie aufzuheben. So herrscht z. B. bei Goethe der Realismus, pgo_098.023 bei Schiller der Jdealismus vor, aber nicht bis zu einseitiger Störung; pgo_098.024 denn Goethe hat einen „Faust“ geschrieben und Schiller „Wallenstein's pgo_098.025 Lager.“ Jn der neuesten Zeit ist indeß der Realismus die Parole der pgo_098.026 Kritik und die Losung des Tages geworden; er ist in einen ästhetischen pgo_098.027 Materialismus ausgeartet; man hat den Jdealismus als Geisterseherei pgo_098.028 geächtet und sucht sich überhaupt vom „Geist“ nach Art des Proktophantasmisten pgo_098.029 im „Faust“ zu curiren, von dem Mephistopheles sagt:
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Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,pgo_098.031 Das ist die Art, wie er sich soulagirt,pgo_098.032 Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,pgo_098.033 Jst er von Geistern und vom Geist curirt. —
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/120>, abgerufen am 16.02.2025.
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