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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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hervorgerufen, das der Begeisterung blitzt mit einem Schlag empor. pgo_091.002
Die Phantasie, die Geburtsstätte der Dichtung, ist zuerst jene Stätte der pgo_091.003
Empfängniß, wo sich die Jdee des Schönen und das vom Dichter ergriffene pgo_091.004
Object begegnen. Nach Goethe's Ansicht, daß jedes Gedicht ein pgo_091.005
Gelegenheitsgedicht sei, scheint das Ergreifen des Stoffes dem Zufall pgo_091.006
anheimgegeben. Dies ist dahin zu beschränken, daß die Veranlassung, pgo_091.007
welche dem Dichter den Stoff zuführt, eine zufällige sein kann; aber daß pgo_091.008
er gerade diesen Stoff ergreift, ist kein Zufall mehr, sondern die innere pgo_091.009
Nöthigung seines Genius. Eine Novelle, eine Chronik, ein Erlebniß pgo_091.010
mag dem Dichter den Stoff zuführen, ja selbst die äußerlichste Bestellung pgo_091.011
hat ihr gutes Recht, wenn der bestellte Stoff nur der Art ist, daß er die pgo_091.012
Begeisterung des Genius zu wecken vermag! Und zwar gilt hier die pgo_091.013
persönliche Bestimmtheit des Dichters, sein charakteristisches Gepräge. pgo_091.014
Shakespeare, der Meister großer Seelengemälde, fühlte sich durch jene pgo_091.015
Novellen angezogen, in denen, wie in "Romeo und Julie," "Othello," pgo_091.016
"Hamlet," die Chronik menschlicher Leidenschaft enthalten war. Aus pgo_091.017
dem Knäuel der Novelle entwickelte er jene dramatischen Fäden, die bis pgo_091.018
in die tiefsten Labyrinthe der Menschenseele hineinreichen. Es ist kaum pgo_091.019
anzunehmen, daß diese Stoffe sympathisch, Leben zündend auf Schiller pgo_091.020
gewirkt hätten, dessen energische, nach der historischen That hin gespannte pgo_091.021
Natur durch die großen Helden und Staatsmänner der Geschichte enthusiastisch pgo_091.022
angeregt wurde! Die Wahl des Stoffes ist daher schon immer pgo_091.023
eine That der Begeisterung, eine innere Nothwendigkeit! Wohl kann pgo_091.024
derselbe Stoff auch entgegengesetzte Dichternaturen entzünden, wenn er pgo_091.025
nur eine Saite derselben in Schwingung setzt. Auch Goethe hätte einen pgo_091.026
"Tell" schreiben können und trug sich mit diesem Stoffe, sowie er einen pgo_091.027
"Egmont" und "Götz" geschrieben. Doch ihn hätte nur das Charakterbild pgo_091.028
interessirt, er hätte dem leichtblütigen Niederländer, dem treuherzigen pgo_091.029
deutschen Ritter das Schweizer Naturkind gesellt, und in der Ausführung pgo_091.030
wäre gewiß viel Genrebildliches, viel "Jery und Bätely" mituntergelaufen.

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Hat die Dichterphantasie nun ihren Stoff erfaßt: so beginnt sie mit pgo_091.033
seiner Läuterung und Erhebung. Das Zufällige scheidet sie aus und pgo_091.034
giebt ihm Schwingen der Seele. Sie sucht der Gestalt die schöne Mitte pgo_091.035
des Menschlichen zu retten, hält sie allgemein genug, daß Jeder mit ihr

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Hat die Dichterphantasie nun ihren Stoff erfaßt: so beginnt sie mit pgo_091.033
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/113>, abgerufen am 22.11.2024.