pgo_091.001 hervorgerufen, das der Begeisterung blitzt mit einem Schlag empor. pgo_091.002 Die Phantasie, die Geburtsstätte der Dichtung, ist zuerst jene Stätte der pgo_091.003 Empfängniß, wo sich die Jdee des Schönen und das vom Dichter ergriffene pgo_091.004 Object begegnen. Nach Goethe's Ansicht, daß jedes Gedicht ein pgo_091.005 Gelegenheitsgedicht sei, scheint das Ergreifen des Stoffes dem Zufallpgo_091.006 anheimgegeben. Dies ist dahin zu beschränken, daß die Veranlassung, pgo_091.007 welche dem Dichter den Stoff zuführt, eine zufällige sein kann; aber daß pgo_091.008 er gerade diesen Stoff ergreift, ist kein Zufall mehr, sondern die innere pgo_091.009 Nöthigung seines Genius. Eine Novelle, eine Chronik, ein Erlebniß pgo_091.010 mag dem Dichter den Stoff zuführen, ja selbst die äußerlichste Bestellung pgo_091.011 hat ihr gutes Recht, wenn der bestellte Stoff nur der Art ist, daß er die pgo_091.012 Begeisterung des Genius zu wecken vermag! Und zwar gilt hier die pgo_091.013 persönliche Bestimmtheit des Dichters, sein charakteristisches Gepräge. pgo_091.014 Shakespeare, der Meister großer Seelengemälde, fühlte sich durch jene pgo_091.015 Novellen angezogen, in denen, wie in "Romeo und Julie," "Othello," pgo_091.016 "Hamlet," die Chronik menschlicher Leidenschaft enthalten war. Aus pgo_091.017 dem Knäuel der Novelle entwickelte er jene dramatischen Fäden, die bis pgo_091.018 in die tiefsten Labyrinthe der Menschenseele hineinreichen. Es ist kaum pgo_091.019 anzunehmen, daß diese Stoffe sympathisch, Leben zündend auf Schiller pgo_091.020 gewirkt hätten, dessen energische, nach der historischen That hin gespannte pgo_091.021 Natur durch die großen Helden und Staatsmänner der Geschichte enthusiastisch pgo_091.022 angeregt wurde! Die Wahl des Stoffes ist daher schon immer pgo_091.023 eine That der Begeisterung, eine innere Nothwendigkeit! Wohl kann pgo_091.024 derselbe Stoff auch entgegengesetzte Dichternaturen entzünden, wenn er pgo_091.025 nur eine Saite derselben in Schwingung setzt. Auch Goethe hätte einen pgo_091.026 "Tell" schreiben können und trug sich mit diesem Stoffe, sowie er einen pgo_091.027 "Egmont" und "Götz" geschrieben. Doch ihn hätte nur das Charakterbild pgo_091.028 interessirt, er hätte dem leichtblütigen Niederländer, dem treuherzigen pgo_091.029 deutschen Ritter das Schweizer Naturkind gesellt, und in der Ausführung pgo_091.030 wäre gewiß viel Genrebildliches, viel "Jery und Bätely" mituntergelaufen.
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pgo_091.032 Hat die Dichterphantasie nun ihren Stoff erfaßt: so beginnt sie mit pgo_091.033 seiner Läuterung und Erhebung. Das Zufällige scheidet sie aus und pgo_091.034 giebt ihm Schwingen der Seele. Sie sucht der Gestalt die schöne Mitte pgo_091.035 des Menschlichen zu retten, hält sie allgemein genug, daß Jeder mit ihr
pgo_091.001 hervorgerufen, das der Begeisterung blitzt mit einem Schlag empor. pgo_091.002 Die Phantasie, die Geburtsstätte der Dichtung, ist zuerst jene Stätte der pgo_091.003 Empfängniß, wo sich die Jdee des Schönen und das vom Dichter ergriffene pgo_091.004 Object begegnen. Nach Goethe's Ansicht, daß jedes Gedicht ein pgo_091.005 Gelegenheitsgedicht sei, scheint das Ergreifen des Stoffes dem Zufallpgo_091.006 anheimgegeben. Dies ist dahin zu beschränken, daß die Veranlassung, pgo_091.007 welche dem Dichter den Stoff zuführt, eine zufällige sein kann; aber daß pgo_091.008 er gerade diesen Stoff ergreift, ist kein Zufall mehr, sondern die innere pgo_091.009 Nöthigung seines Genius. Eine Novelle, eine Chronik, ein Erlebniß pgo_091.010 mag dem Dichter den Stoff zuführen, ja selbst die äußerlichste Bestellung pgo_091.011 hat ihr gutes Recht, wenn der bestellte Stoff nur der Art ist, daß er die pgo_091.012 Begeisterung des Genius zu wecken vermag! Und zwar gilt hier die pgo_091.013 persönliche Bestimmtheit des Dichters, sein charakteristisches Gepräge. pgo_091.014 Shakespeare, der Meister großer Seelengemälde, fühlte sich durch jene pgo_091.015 Novellen angezogen, in denen, wie in „Romeo und Julie,“ „Othello,“ pgo_091.016 „Hamlet,“ die Chronik menschlicher Leidenschaft enthalten war. Aus pgo_091.017 dem Knäuel der Novelle entwickelte er jene dramatischen Fäden, die bis pgo_091.018 in die tiefsten Labyrinthe der Menschenseele hineinreichen. Es ist kaum pgo_091.019 anzunehmen, daß diese Stoffe sympathisch, Leben zündend auf Schiller pgo_091.020 gewirkt hätten, dessen energische, nach der historischen That hin gespannte pgo_091.021 Natur durch die großen Helden und Staatsmänner der Geschichte enthusiastisch pgo_091.022 angeregt wurde! Die Wahl des Stoffes ist daher schon immer pgo_091.023 eine That der Begeisterung, eine innere Nothwendigkeit! Wohl kann pgo_091.024 derselbe Stoff auch entgegengesetzte Dichternaturen entzünden, wenn er pgo_091.025 nur eine Saite derselben in Schwingung setzt. Auch Goethe hätte einen pgo_091.026 „Tell“ schreiben können und trug sich mit diesem Stoffe, sowie er einen pgo_091.027 „Egmont“ und „Götz“ geschrieben. Doch ihn hätte nur das Charakterbild pgo_091.028 interessirt, er hätte dem leichtblütigen Niederländer, dem treuherzigen pgo_091.029 deutschen Ritter das Schweizer Naturkind gesellt, und in der Ausführung pgo_091.030 wäre gewiß viel Genrebildliches, viel „Jery und Bätely“ mituntergelaufen.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/113>, abgerufen am 22.11.2024.
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