pgo_086.001 nicht blos die Dinge, sie schaut das Schöne! Und sie schafft es, indem pgo_086.002 sie es schaut. Der dichterische Schöpfungsproceß ist ein Act der Phantasie! pgo_086.003 Was an ihm geheimnißvoll erscheint, das beruht auf dem eigenthümlichen pgo_086.004 Wesen des Schönen, wie es sich in der Welt der Seele spiegelt. pgo_086.005 Das Schöne tritt fertig als Object, mit der Unmittelbarkeit des sinnlichen pgo_086.006 Dinges vor uns hin; es berührt uns mit dem ganzen frischen Reize der pgo_086.007 Natur und ist doch ungetrübte Jdee zugleich! Dieser frische Reiz der pgo_086.008 Natur, dieser Zauber des Unmittelbaren und Ursprünglichen begleitet pgo_086.009 auch die schaffende Phantasie und zeigt sich hier sowohl als natürliche pgo_086.010 Begabung, als eine dem Einzelnen gewährte Gunst, wie auch als pgo_086.011 begeisterte Eingebung, der eine unsichtbare Macht in die Feder zu dictiren pgo_086.012 scheint!
pgo_086.013 Um das dichterische Schaffen zu begreifen, kehren wir noch einmal pgo_086.014 zur träumenden Einbildungskraft zurück. Der Traum ist ein Gedicht pgo_086.015 der Ganglien, an welchem das Gehirn nur wenig mitarbeitet. Was ihn pgo_086.016 als Gedicht erscheinen läßt, das ist nicht die willkürliche Verknüpfung der pgo_086.017 Bilder; sondern das vollkommene Aufgehn des Träumenden in seiner pgo_086.018 geträumten Welt. Die Personen, die der Traum hinzaubert, haben pgo_086.019 Fleisch und Blut, Form und Farbe und fallen nicht aus der Rolle. Nur pgo_086.020 selten unterbricht der Träumende, wie ein reflectirender Dichter, die pgo_086.021 objective Welt, die er schafft, und in welche er sich mit allen seinen Sinnen, pgo_086.022 seinem Empfinden und Denken, seinem vollsten Glauben versenkt. Es pgo_086.023 träumt z. B. Jemand von der Angst vor einem Examen und während pgo_086.024 desselben, das er schon längst gemacht hat. Mitten in diese zagend pgo_086.025 empfundene Angst schleicht sich leise aufdämmernd der Gedanke: aber pgo_086.026 wie ist es möglich, daß du dies Examen noch einmal machen mußt, du pgo_086.027 hast es ja schon gemacht -- ein Gedanke, mit welchem das bewußte pgo_086.028 Gehirn die Dichtversuche der Ganglien corrigirt und ihnen den Vorwurf pgo_086.029 der Verletzung der historischen Treue macht; aber die dichtenden Ganglien pgo_086.030 lassen sich durch diese subjective Reflexion nicht unterbrechen, das Gehirn pgo_086.031 mit seinen schüchternen Einwürfen verharrt in seiner dienenden Stellung; pgo_086.032 jene fahren fort, über den Delinquenten den ganzen Angstschweiß einer pgo_086.033 mit folternder Genauigkeit ausgeführten Prüfung zu verhängen. So pgo_086.034 groß ist die Objectivität des Traums, daß er in dieser Hinsicht dem Dichter pgo_086.035 zum Muster dienen könnte. Dagegen ist der Traum nachlässig bis
pgo_086.001 nicht blos die Dinge, sie schaut das Schöne! Und sie schafft es, indem pgo_086.002 sie es schaut. Der dichterische Schöpfungsproceß ist ein Act der Phantasie! pgo_086.003 Was an ihm geheimnißvoll erscheint, das beruht auf dem eigenthümlichen pgo_086.004 Wesen des Schönen, wie es sich in der Welt der Seele spiegelt. pgo_086.005 Das Schöne tritt fertig als Object, mit der Unmittelbarkeit des sinnlichen pgo_086.006 Dinges vor uns hin; es berührt uns mit dem ganzen frischen Reize der pgo_086.007 Natur und ist doch ungetrübte Jdee zugleich! Dieser frische Reiz der pgo_086.008 Natur, dieser Zauber des Unmittelbaren und Ursprünglichen begleitet pgo_086.009 auch die schaffende Phantasie und zeigt sich hier sowohl als natürliche pgo_086.010 Begabung, als eine dem Einzelnen gewährte Gunst, wie auch als pgo_086.011 begeisterte Eingebung, der eine unsichtbare Macht in die Feder zu dictiren pgo_086.012 scheint!
pgo_086.013 Um das dichterische Schaffen zu begreifen, kehren wir noch einmal pgo_086.014 zur träumenden Einbildungskraft zurück. Der Traum ist ein Gedicht pgo_086.015 der Ganglien, an welchem das Gehirn nur wenig mitarbeitet. Was ihn pgo_086.016 als Gedicht erscheinen läßt, das ist nicht die willkürliche Verknüpfung der pgo_086.017 Bilder; sondern das vollkommene Aufgehn des Träumenden in seiner pgo_086.018 geträumten Welt. Die Personen, die der Traum hinzaubert, haben pgo_086.019 Fleisch und Blut, Form und Farbe und fallen nicht aus der Rolle. Nur pgo_086.020 selten unterbricht der Träumende, wie ein reflectirender Dichter, die pgo_086.021 objective Welt, die er schafft, und in welche er sich mit allen seinen Sinnen, pgo_086.022 seinem Empfinden und Denken, seinem vollsten Glauben versenkt. Es pgo_086.023 träumt z. B. Jemand von der Angst vor einem Examen und während pgo_086.024 desselben, das er schon längst gemacht hat. Mitten in diese zagend pgo_086.025 empfundene Angst schleicht sich leise aufdämmernd der Gedanke: aber pgo_086.026 wie ist es möglich, daß du dies Examen noch einmal machen mußt, du pgo_086.027 hast es ja schon gemacht — ein Gedanke, mit welchem das bewußte pgo_086.028 Gehirn die Dichtversuche der Ganglien corrigirt und ihnen den Vorwurf pgo_086.029 der Verletzung der historischen Treue macht; aber die dichtenden Ganglien pgo_086.030 lassen sich durch diese subjective Reflexion nicht unterbrechen, das Gehirn pgo_086.031 mit seinen schüchternen Einwürfen verharrt in seiner dienenden Stellung; pgo_086.032 jene fahren fort, über den Delinquenten den ganzen Angstschweiß einer pgo_086.033 mit folternder Genauigkeit ausgeführten Prüfung zu verhängen. So pgo_086.034 groß ist die Objectivität des Traums, daß er in dieser Hinsicht dem Dichter pgo_086.035 zum Muster dienen könnte. Dagegen ist der Traum nachlässig bis
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/108>, abgerufen am 24.11.2024.
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