pgo_084.001 geistige Streben des Titanen Faust mit seiner Jnnerlichkeit nicht bis zur pgo_084.002 Ermüdung vorwalten und stehn doch in gedanklichem Zusammenhange pgo_084.003 mit ihm. Ebenso ist der Erdgeist eine echt dichterische Personification, pgo_084.004 wie die Naturgeister in Byron's "Manfred," während die philologischen pgo_084.005 Gespenster und die nüchternen allegorischen Gestalten im zweiten Theil des pgo_084.006 "Faust" unlebendige Versuche einer ermatteten Phantasie sind, gelehrte pgo_084.007 Noten oder abstracte Begriffe dichterisch anschaulich zu machen. Solche pgo_084.008 dämonische Gestalten, wie Mephistopheles und Ahasver, Träger einer pgo_084.009 Jdee, haben wahrhaft dichterisches Leben und werden einer Gedankendichtung, pgo_084.010 die sich mit den höchsten Fragen des Menschengeistes beschäftigt, pgo_084.011 nimmer entbehrlich werden.
pgo_084.012 Das echte Wunder kann der Dichter der Neuzeit nur in die Seele pgo_084.013 verlegen, in deren Stimmungen noch die Gespensterwelt ein vergängliches pgo_084.014 Leben führt. An das Gespenst glauben wir nicht; wohl aber an pgo_084.015 die Stimmung, welche Gespenster sieht, an die Erregung der Seele, die pgo_084.016 Schauer der Nerven. Wer das Gespenst malen will, der verscheucht es. pgo_084.017 Altschottische Balladen, Goethe's Erlkönig sind Mustergedichte solcher pgo_084.018 Stimmungen, in denen schattenhaft das Grauenvolle der Seele nahe pgo_084.019 tritt, Shakespeare hat im "Macbeth," "Hamlet," "Julius Cäsar" die pgo_084.020 innere Erregung seiner Helden theatralisch versinnlicht und läßt den pgo_084.021 Zuschauer zugleich mit seinen Helden die Geistergebilde sehen, die ihre pgo_084.022 Seelen bestürmen! Er geht indeß darin äußerlich zu Werke und läßt pgo_084.023 den Geist von Hamlet's Vater nicht blos dem Dänenprinzen selbst, sondern pgo_084.024 auch den Schildwachen und Hamlet's Freunden erscheinen, so daß pgo_084.025 er aufhört, ein psychologisches Gespenst zu sein, und ein handgreifliches pgo_084.026 wird. Der richtige Jnstinct wird die Dichter der Neuzeit abhalten, pgo_084.027 hierin dem Vorbilde des Britten zu folgen; denn mit dem Geisterglauben pgo_084.028 verschwindet alle Nöthigung zu dieser Art dramatischer Seelenmalerei. pgo_084.029 Echt modern ist dagegen die humoristische Auflösung der pgo_084.030 Gespensterfurcht, wie sie uns Byron im "Don Juan" vorführt, der pgo_084.031 anstatt des gefürchteten Geistes zuletzt den Leben athmenden Leib der pgo_084.032 Lady Fitzfulk umarmt. Die Taschenspielerei des neuen Magierthums, pgo_084.033 der alten und neuen Cagliostro's, welche zur Zeit unserer Klassiker so pgo_084.034 en vogue war, daß Goethe nicht blos im "Großkophta," sondern auch pgo_084.035 im "Wilhelm Meister," Schiller im "Geisterseher," Jean Paul in mehreren
pgo_084.001 geistige Streben des Titanen Faust mit seiner Jnnerlichkeit nicht bis zur pgo_084.002 Ermüdung vorwalten und stehn doch in gedanklichem Zusammenhange pgo_084.003 mit ihm. Ebenso ist der Erdgeist eine echt dichterische Personification, pgo_084.004 wie die Naturgeister in Byron's „Manfred,“ während die philologischen pgo_084.005 Gespenster und die nüchternen allegorischen Gestalten im zweiten Theil des pgo_084.006 „Faust“ unlebendige Versuche einer ermatteten Phantasie sind, gelehrte pgo_084.007 Noten oder abstracte Begriffe dichterisch anschaulich zu machen. Solche pgo_084.008 dämonische Gestalten, wie Mephistopheles und Ahasver, Träger einer pgo_084.009 Jdee, haben wahrhaft dichterisches Leben und werden einer Gedankendichtung, pgo_084.010 die sich mit den höchsten Fragen des Menschengeistes beschäftigt, pgo_084.011 nimmer entbehrlich werden.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/106>, abgerufen am 28.11.2024.
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