pgo_083.001 Homer's naive Olympier und die Riesengestalten der Edda, etwas Anderes pgo_083.002 die allegorischen Wunder der Henriade und Tasso's langweilige Teufel. pgo_083.003 Diese Art von Wunder entspringt nicht einer freischaffenden Phantasie, pgo_083.004 sondern einem nüchternen Verstande, der sich abmüht, einer abgelebten pgo_083.005 Regel zu gehorchen und eine veraltete Tradition zu beseelen. pgo_083.006 Tasso läßt den Teufel mit Hörnern erscheinen, gegen welche alle Berge pgo_083.007 und Felsen nur kleine Hügel sind; er läßt den Schutzengel Raimund's pgo_083.008 aus der himmlischen Rüstkammer einen diamant'nen Schild von solcher pgo_083.009 Breite holen, daß er vom Kaukasus bis an den Atlas alle Länder und pgo_083.010 Meere bedeckt. Milton läßt seinen Satan die ersten Karthaunen erfinden, pgo_083.011 dagegen seine Engel, und zwar vor Erschaffung der Welt, ganze Gebirge pgo_083.012 entwurzeln und den Teufeln an den Kopf werfen. Diese ernstgemeinte pgo_083.013 Erhabenheit des Wunderbaren schlägt unmittelbar in's Lächerliche um. pgo_083.014 Anders das freie Spiel der Phantasie bei Ovid und Ariost, in Shakespeare's pgo_083.015 "Sturm" und "Sommernachtstraum," in der Märchenwelt des pgo_083.016 Phantasus! Hier ist Alles in den Aether der "mondbeglänzten Zaubernacht" pgo_083.017 getaucht; hier gilt die Logik des Traums und seiner freischwebenden pgo_083.018 Arabesken! Diese Herrschaft des Märchenhaften ist berechtigt innerhalb pgo_083.019 ihrer Grenzen! Nur darf sie nie in das Abgeschmackte übergehn, am pgo_083.020 wenigsten aber sich für den Kern und das Wesen aller Poesie ausgeben! pgo_083.021 Das war der Jrrwahn der Romantik, an dem ihre Talente gescheitert pgo_083.022 sind! Der Duft der blauen Blume des Novalis hatte sie berauscht, und pgo_083.023 in ihrer Traumestrunkenheit sahn sie nicht die Schönheit der Welt am pgo_083.024 hellen Tage der Geschichte! Dennoch sind ihre Märchenwunder dichterischer, pgo_083.025 als die biblischen Schatten, die Klopstock mit der erhabenen Monotonie pgo_083.026 seines messianischen Schwunges heraufbeschwört. Eine andere pgo_083.027 Domaine des Wunderbaren, außer dem Märchen, bleibt die formlose pgo_083.028 Gedankendichtung, von Dante's "divina commedia" bis zu Goethe's pgo_083.029 "Faust," weil hier der Dichter nach Gestalten greift, die seine Jdee versinnlichen, pgo_083.030 und die Mächte der Natur und des Geistes mit Fleisch und pgo_083.031 Blut bekleidet. Durch geistvolle innere Lebendigkeit wird hier die Klippe pgo_083.032 der todten Allegorie vermieden. Auf der andern Seite bildet das volksthümliche pgo_083.033 Geisterwesen einen nothwendigen Gegensatz gegen die Vertiefung pgo_083.034 in metaphysische Probleme. Die Hexenküche, die Walpurgisnacht pgo_083.035 zerstreuen uns durch ihre frische, handgreifliche Lebendigkeit, lassen das
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/105>, abgerufen am 22.11.2024.
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