Gotthelf, Jeremias [d. i. Albert Bitzius]: Kurt von Koppigen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 12. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–194. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.A. Bitzius (s. über ihn Bd. VII, S. 8 unserer Sammlung) hat außer den Schilderungen seiner ländlichen Umgebung eine Anzahl romantischer Erzählungen geschrieben, welche jedoch im Ganzen nicht eben glücklich sind, bis auf eine, die freilich nur mit Unrecht dieser Klasse beigezählt wird, da sie vielmehr zwischen seinen romantischen und seinen Dorfgeschichten höchst eigenthümlich mitten inne steht und eine wie die andere der beiden Gattungen übertreffen dürfte. Denn obgleich "Kurt von Koppigen" im Mittelalter spielt und sogar mit legendenartigen Wunderbegebenheiten schließt, so ist diese Geschichte dennoch nichts weniger als romantisch, sie ist im Gegentheil realistisch durch und durch. Gotthelf zeichnet das dreizehnte Jahrhundert von der ländlichen Seite im Gegensatze zu der höfischen, die zwar nicht allen Edelsitzen auf dem Lande fehlte, aber dem ganzen Deutschland jenes Jahrhunderts doch nur so flüchtig und zerbrechlich erglänzte, wie der Regenbogen im Wasserfall. Er stellt uns auf den Boden, auf welchem ein "Herzog" von Urslingen, am Kaiserhofe in den höchsten Würden, sich von feinen ländlichen Standesgenossen als simpler Freiherr behandeln lassen mußte; auf den Boden, auf welchem ein Schenk von Winterstetten, der unter Friedrich II. Reichsschenke, Statthalter in Schwaben und Erzieher des Königs Heinrich gewesen, völlig verarmt zu Fuß mit seinem Knechte von einem Herrn zum andern betteln ging. Wie mit einer Art Intuition schildert er jene Zustände, in welchen das mittelalterliche Leben Deutschlands nach seiner wahren Gestalt erscheint; Zustände, welche, als das Reich Schiffbruch litt und mit ihm die entlehnte, A. Bitzius (s. über ihn Bd. VII, S. 8 unserer Sammlung) hat außer den Schilderungen seiner ländlichen Umgebung eine Anzahl romantischer Erzählungen geschrieben, welche jedoch im Ganzen nicht eben glücklich sind, bis auf eine, die freilich nur mit Unrecht dieser Klasse beigezählt wird, da sie vielmehr zwischen seinen romantischen und seinen Dorfgeschichten höchst eigenthümlich mitten inne steht und eine wie die andere der beiden Gattungen übertreffen dürfte. Denn obgleich „Kurt von Koppigen“ im Mittelalter spielt und sogar mit legendenartigen Wunderbegebenheiten schließt, so ist diese Geschichte dennoch nichts weniger als romantisch, sie ist im Gegentheil realistisch durch und durch. Gotthelf zeichnet das dreizehnte Jahrhundert von der ländlichen Seite im Gegensatze zu der höfischen, die zwar nicht allen Edelsitzen auf dem Lande fehlte, aber dem ganzen Deutschland jenes Jahrhunderts doch nur so flüchtig und zerbrechlich erglänzte, wie der Regenbogen im Wasserfall. Er stellt uns auf den Boden, auf welchem ein „Herzog“ von Urslingen, am Kaiserhofe in den höchsten Würden, sich von feinen ländlichen Standesgenossen als simpler Freiherr behandeln lassen mußte; auf den Boden, auf welchem ein Schenk von Winterstetten, der unter Friedrich II. Reichsschenke, Statthalter in Schwaben und Erzieher des Königs Heinrich gewesen, völlig verarmt zu Fuß mit seinem Knechte von einem Herrn zum andern betteln ging. Wie mit einer Art Intuition schildert er jene Zustände, in welchen das mittelalterliche Leben Deutschlands nach seiner wahren Gestalt erscheint; Zustände, welche, als das Reich Schiffbruch litt und mit ihm die entlehnte, <TEI> <text> <front> <pb facs="#f0005"/> <div type="preface"> <p>A. Bitzius (s. über ihn Bd. VII, S. 8 unserer Sammlung) hat außer den Schilderungen seiner ländlichen Umgebung eine Anzahl romantischer Erzählungen geschrieben, welche jedoch im Ganzen nicht eben glücklich sind, bis auf eine, die freilich nur mit Unrecht dieser Klasse beigezählt wird, da sie vielmehr zwischen seinen romantischen und seinen Dorfgeschichten höchst eigenthümlich mitten inne steht und eine wie die andere der beiden Gattungen übertreffen dürfte. Denn obgleich „Kurt von Koppigen“ im Mittelalter spielt und sogar mit legendenartigen Wunderbegebenheiten schließt, so ist diese Geschichte dennoch nichts weniger als romantisch, sie ist im Gegentheil realistisch durch und durch. Gotthelf zeichnet das dreizehnte Jahrhundert von der ländlichen Seite im Gegensatze zu der höfischen, die zwar nicht allen Edelsitzen auf dem Lande fehlte, aber dem ganzen Deutschland jenes Jahrhunderts doch nur so flüchtig und zerbrechlich erglänzte, wie der Regenbogen im Wasserfall. Er stellt uns auf den Boden, auf welchem ein „Herzog“ von Urslingen, am Kaiserhofe in den höchsten Würden, sich von feinen ländlichen Standesgenossen als simpler Freiherr behandeln lassen mußte; auf den Boden, auf welchem ein Schenk von Winterstetten, der unter Friedrich II. Reichsschenke, Statthalter in Schwaben und Erzieher des Königs Heinrich gewesen, völlig verarmt zu Fuß mit seinem Knechte von einem Herrn zum andern betteln ging. Wie mit einer Art Intuition schildert er jene Zustände, in welchen das mittelalterliche Leben Deutschlands nach seiner wahren Gestalt erscheint; Zustände, welche, als das Reich Schiffbruch litt und mit ihm die entlehnte,<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0005]
A. Bitzius (s. über ihn Bd. VII, S. 8 unserer Sammlung) hat außer den Schilderungen seiner ländlichen Umgebung eine Anzahl romantischer Erzählungen geschrieben, welche jedoch im Ganzen nicht eben glücklich sind, bis auf eine, die freilich nur mit Unrecht dieser Klasse beigezählt wird, da sie vielmehr zwischen seinen romantischen und seinen Dorfgeschichten höchst eigenthümlich mitten inne steht und eine wie die andere der beiden Gattungen übertreffen dürfte. Denn obgleich „Kurt von Koppigen“ im Mittelalter spielt und sogar mit legendenartigen Wunderbegebenheiten schließt, so ist diese Geschichte dennoch nichts weniger als romantisch, sie ist im Gegentheil realistisch durch und durch. Gotthelf zeichnet das dreizehnte Jahrhundert von der ländlichen Seite im Gegensatze zu der höfischen, die zwar nicht allen Edelsitzen auf dem Lande fehlte, aber dem ganzen Deutschland jenes Jahrhunderts doch nur so flüchtig und zerbrechlich erglänzte, wie der Regenbogen im Wasserfall. Er stellt uns auf den Boden, auf welchem ein „Herzog“ von Urslingen, am Kaiserhofe in den höchsten Würden, sich von feinen ländlichen Standesgenossen als simpler Freiherr behandeln lassen mußte; auf den Boden, auf welchem ein Schenk von Winterstetten, der unter Friedrich II. Reichsschenke, Statthalter in Schwaben und Erzieher des Königs Heinrich gewesen, völlig verarmt zu Fuß mit seinem Knechte von einem Herrn zum andern betteln ging. Wie mit einer Art Intuition schildert er jene Zustände, in welchen das mittelalterliche Leben Deutschlands nach seiner wahren Gestalt erscheint; Zustände, welche, als das Reich Schiffbruch litt und mit ihm die entlehnte,
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