Gotter, Friedrich Wilhelm: Die Erbschleicher. Leipzig, 1789.Die Erbschleicher. Bieder. Nein, Herr! Dieser Artikel wirft den ganzen Vertrag über den Haufen. Gerhard. Wollen Sie mir verbieten, was die Dankbarkeit von mir fodert? Es ist nichts, als eine verjährte Schuld; nichts, als ein gerin- ger Lohn für Justinens unendliche Treue. Justine (gerührt.) Herr Gerhard! Gerhard (legt die rechte Hand auf Justinens Schulter, faßt mit der andern ihre linke Hand.) Eine Fremde liebte mich, da alle die Meinigen mich verfolgten. Eine Fremde war die Einzige, die mich nie betrog. Justine (in Thränen.) Ach, wenn Sie wüß- ten, wie sehr mich dieses Zeugniß demüthigt! Gerhard. Bescheidenheit ist die Krone weib- licher Tugend. Justine (knieend.) Niemand betrog Sie so sehr, als ich! (Lehnt ihr Gesicht an ihn.) Gerhard (stutzt.) Justine! -- Du? -- wär es möglich? -- (Von der vorigen Empfindung über- rascht.) Doch ich mags nicht wissen -- Du hast dich selbst bevortheilt -- Steh auf! Ich verzei- he dir -- ich nehme dich zur Tochter an. (Umarmt sie.) Die Erbſchleicher. Bieder. Nein, Herr! Dieſer Artikel wirft den ganzen Vertrag uͤber den Haufen. Gerhard. Wollen Sie mir verbieten, was die Dankbarkeit von mir fodert? Es iſt nichts, als eine verjaͤhrte Schuld; nichts, als ein gerin- ger Lohn fuͤr Juſtinens unendliche Treue. Juſtine (gerührt.) Herr Gerhard! Gerhard (legt die rechte Hand auf Juſtinens Schulter, faßt mit der andern ihre linke Hand.) Eine Fremde liebte mich, da alle die Meinigen mich verfolgten. Eine Fremde war die Einzige, die mich nie betrog. Juſtine (in Thränen.) Ach, wenn Sie wuͤß- ten, wie ſehr mich dieſes Zeugniß demuͤthigt! Gerhard. Beſcheidenheit iſt die Krone weib- licher Tugend. Juſtine (knieend.) Niemand betrog Sie ſo ſehr, als ich! (Lehnt ihr Geſicht an ihn.) Gerhard (ſtutzt.) Juſtine! — Du? — waͤr es moͤglich? — (Von der vorigen Empfindung über- raſcht.) Doch ich mags nicht wiſſen — Du haſt dich ſelbſt bevortheilt — Steh auf! Ich verzei- he dir — ich nehme dich zur Tochter an. (Umarmt ſie.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0222" n="216"/> <fw place="top" type="header">Die Erbſchleicher.</fw><lb/> <sp who="#BIE"> <speaker> <hi rendition="#fr">Bieder.</hi> </speaker> <p>Nein, Herr! Dieſer Artikel wirft<lb/> den ganzen Vertrag uͤber den Haufen.</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard.</hi> </speaker> <p>Wollen Sie mir verbieten, was<lb/> die Dankbarkeit von mir fodert? Es iſt nichts,<lb/> als eine verjaͤhrte Schuld; nichts, als ein gerin-<lb/> ger Lohn fuͤr Juſtinens unendliche Treue.</p> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine</hi> </speaker> <stage>(gerührt.)</stage> <p>Herr Gerhard!</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard</hi> </speaker> <stage>(legt die rechte Hand auf Juſtinens<lb/> Schulter, faßt mit der andern ihre linke Hand.)</stage> <p>Eine<lb/> Fremde liebte mich, da alle die Meinigen mich<lb/> verfolgten. Eine Fremde war die Einzige, die<lb/> mich nie betrog.</p> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine</hi> </speaker> <stage>(in Thränen.)</stage> <p>Ach, wenn Sie wuͤß-<lb/> ten, wie ſehr mich dieſes Zeugniß demuͤthigt!</p> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard.</hi> </speaker> <p>Beſcheidenheit iſt die Krone weib-<lb/> licher Tugend.</p> </sp><lb/> <sp who="#JUS"> <speaker> <hi rendition="#fr">Juſtine</hi> </speaker> <stage>(knieend.)</stage> <p>Niemand betrog Sie ſo<lb/> ſehr, als ich!</p> <stage>(Lehnt ihr Geſicht an ihn.)</stage> </sp><lb/> <sp who="#GER"> <speaker> <hi rendition="#fr">Gerhard</hi> </speaker> <stage>(ſtutzt.)</stage> <p>Juſtine! — Du? — waͤr<lb/> es moͤglich? —</p> <stage>(Von der vorigen Empfindung über-<lb/> raſcht.)</stage> <p>Doch ich mags nicht wiſſen — Du haſt<lb/> dich ſelbſt bevortheilt — Steh auf! Ich verzei-<lb/> he dir — ich nehme dich zur Tochter an.</p><lb/> <stage>(Umarmt ſie.)</stage> </sp><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [216/0222]
Die Erbſchleicher.
Bieder. Nein, Herr! Dieſer Artikel wirft
den ganzen Vertrag uͤber den Haufen.
Gerhard. Wollen Sie mir verbieten, was
die Dankbarkeit von mir fodert? Es iſt nichts,
als eine verjaͤhrte Schuld; nichts, als ein gerin-
ger Lohn fuͤr Juſtinens unendliche Treue.
Juſtine (gerührt.) Herr Gerhard!
Gerhard (legt die rechte Hand auf Juſtinens
Schulter, faßt mit der andern ihre linke Hand.) Eine
Fremde liebte mich, da alle die Meinigen mich
verfolgten. Eine Fremde war die Einzige, die
mich nie betrog.
Juſtine (in Thränen.) Ach, wenn Sie wuͤß-
ten, wie ſehr mich dieſes Zeugniß demuͤthigt!
Gerhard. Beſcheidenheit iſt die Krone weib-
licher Tugend.
Juſtine (knieend.) Niemand betrog Sie ſo
ſehr, als ich! (Lehnt ihr Geſicht an ihn.)
Gerhard (ſtutzt.) Juſtine! — Du? — waͤr
es moͤglich? — (Von der vorigen Empfindung über-
raſcht.) Doch ich mags nicht wiſſen — Du haſt
dich ſelbſt bevortheilt — Steh auf! Ich verzei-
he dir — ich nehme dich zur Tochter an.
(Umarmt ſie.)
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