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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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die schönste der Mädgen. Die Zweige deines Hau-
ses blühen, o Carmor, aber Armin ist der lezte
seines Stamms. Finster ist dein Bett, o Dau-
ra! Dumpf ist dein Schlaf in dem Grabe --
Wann erwachst du mit deinen Gesängen, mit dei-
ner melodischen Stimme? Auf! ihr Winde des
Herbst, auf! Stürmt über die finstre Haide!
Waldströhme braust! Heult Stürme in dem Gip-
fel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wol-
ken o Mond, zeige wechselnd dein bleiches Ge-
sicht! Erinnere mich der schröklichen Nacht, da
meine Kinder umkamen, Arindal der mächtige fiel,
Daura, die liebe, vergieng.

Daura, meine Tochter, du warst schön! schön
wie der Mond auf den Hügeln von Fura, weiß
wie der gefallene Schnee, süß wie die athmende
Luft. Arindal, dein Bogen war stark, dein Speer
schnell auf dem Felde, dein Blik wie Nebel auf
der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme.
Armar berühmt im Krieg, kam und warb um Dau-
ras Liebe, sie widerstund nicht lange, schön waren
die Hoffnungen ihrer Freunde.

Erath



die ſchoͤnſte der Maͤdgen. Die Zweige deines Hau-
ſes bluͤhen, o Carmor, aber Armin iſt der lezte
ſeines Stamms. Finſter iſt dein Bett, o Dau-
ra! Dumpf iſt dein Schlaf in dem Grabe —
Wann erwachſt du mit deinen Geſaͤngen, mit dei-
ner melodiſchen Stimme? Auf! ihr Winde des
Herbſt, auf! Stuͤrmt uͤber die finſtre Haide!
Waldſtroͤhme brauſt! Heult Stuͤrme in dem Gip-
fel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wol-
ken o Mond, zeige wechſelnd dein bleiches Ge-
ſicht! Erinnere mich der ſchroͤklichen Nacht, da
meine Kinder umkamen, Arindal der maͤchtige fiel,
Daura, die liebe, vergieng.

Daura, meine Tochter, du warſt ſchoͤn! ſchoͤn
wie der Mond auf den Huͤgeln von Fura, weiß
wie der gefallene Schnee, ſuͤß wie die athmende
Luft. Arindal, dein Bogen war ſtark, dein Speer
ſchnell auf dem Felde, dein Blik wie Nebel auf
der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme.
Armar beruͤhmt im Krieg, kam und warb um Dau-
ras Liebe, ſie widerſtund nicht lange, ſchoͤn waren
die Hoffnungen ihrer Freunde.

Erath
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[202/0090] die ſchoͤnſte der Maͤdgen. Die Zweige deines Hau- ſes bluͤhen, o Carmor, aber Armin iſt der lezte ſeines Stamms. Finſter iſt dein Bett, o Dau- ra! Dumpf iſt dein Schlaf in dem Grabe — Wann erwachſt du mit deinen Geſaͤngen, mit dei- ner melodiſchen Stimme? Auf! ihr Winde des Herbſt, auf! Stuͤrmt uͤber die finſtre Haide! Waldſtroͤhme brauſt! Heult Stuͤrme in dem Gip- fel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wol- ken o Mond, zeige wechſelnd dein bleiches Ge- ſicht! Erinnere mich der ſchroͤklichen Nacht, da meine Kinder umkamen, Arindal der maͤchtige fiel, Daura, die liebe, vergieng. Daura, meine Tochter, du warſt ſchoͤn! ſchoͤn wie der Mond auf den Huͤgeln von Fura, weiß wie der gefallene Schnee, ſuͤß wie die athmende Luft. Arindal, dein Bogen war ſtark, dein Speer ſchnell auf dem Felde, dein Blik wie Nebel auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme. Armar beruͤhmt im Krieg, kam und warb um Dau- ras Liebe, ſie widerſtund nicht lange, ſchoͤn waren die Hoffnungen ihrer Freunde. Erath

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/90>, abgerufen am 23.11.2024.