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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Jch sizze in meinem Jammer, ich harre auf
den Morgen in meinen Thränen. Wühlet das
Grab, ihr Freunde der Todten, aber schließt es nicht,
bis ich komme. Mein Leben schwindet wie ein
Traum, wie sollt ich zurük bleiben. Hier will ich
wohnen mit meinen Freunden an dem Strohme des
klingenden Felsen -- Wenns Nacht wird auf dem
Hügel, und der Wind kommt über die Haide, soll
mein Geist im Winde stehn und trauren den Tod
meiner Freunde. Der Jäger hört mich aus sei-
ner Laube, fürchtet meine Stimme und liebt sie,
den süß soll meine Stimme seyn um meine Freun-
de, sie waren mir beyde so lieb.

Das war dein Gesang, o Minona, Tormans
sanfte erröthende Tochter. Unsere Thränen flossen
um Colma, und unsere Seele ward düster -- Ul-
lin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins
Gesang -- Alpins Stimme war freundlich, Rynos
Seele ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten sie im
engen Hause, und ihre Stimme war verhallet in
Selma -- Einst kehrt Ullin von der Jagd zurük,
eh noch die Helden fielen, er hörte ihren Wette-
gesang auf dem Hügel, ihr Lied war sanft, aber

traurig,
N 3


Jch ſizze in meinem Jammer, ich harre auf
den Morgen in meinen Thraͤnen. Wuͤhlet das
Grab, ihr Freunde der Todten, aber ſchließt es nicht,
bis ich komme. Mein Leben ſchwindet wie ein
Traum, wie ſollt ich zuruͤk bleiben. Hier will ich
wohnen mit meinen Freunden an dem Strohme des
klingenden Felſen — Wenns Nacht wird auf dem
Huͤgel, und der Wind kommt uͤber die Haide, ſoll
mein Geiſt im Winde ſtehn und trauren den Tod
meiner Freunde. Der Jaͤger hoͤrt mich aus ſei-
ner Laube, fuͤrchtet meine Stimme und liebt ſie,
den ſuͤß ſoll meine Stimme ſeyn um meine Freun-
de, ſie waren mir beyde ſo lieb.

Das war dein Geſang, o Minona, Tormans
ſanfte erroͤthende Tochter. Unſere Thraͤnen floſſen
um Colma, und unſere Seele ward duͤſter — Ul-
lin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins
Geſang — Alpins Stimme war freundlich, Rynos
Seele ein Feuerſtrahl. Aber ſchon ruhten ſie im
engen Hauſe, und ihre Stimme war verhallet in
Selma — Einſt kehrt Ullin von der Jagd zuruͤk,
eh noch die Helden fielen, er hoͤrte ihren Wette-
geſang auf dem Huͤgel, ihr Lied war ſanft, aber

traurig,
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[197/0085] Jch ſizze in meinem Jammer, ich harre auf den Morgen in meinen Thraͤnen. Wuͤhlet das Grab, ihr Freunde der Todten, aber ſchließt es nicht, bis ich komme. Mein Leben ſchwindet wie ein Traum, wie ſollt ich zuruͤk bleiben. Hier will ich wohnen mit meinen Freunden an dem Strohme des klingenden Felſen — Wenns Nacht wird auf dem Huͤgel, und der Wind kommt uͤber die Haide, ſoll mein Geiſt im Winde ſtehn und trauren den Tod meiner Freunde. Der Jaͤger hoͤrt mich aus ſei- ner Laube, fuͤrchtet meine Stimme und liebt ſie, den ſuͤß ſoll meine Stimme ſeyn um meine Freun- de, ſie waren mir beyde ſo lieb. Das war dein Geſang, o Minona, Tormans ſanfte erroͤthende Tochter. Unſere Thraͤnen floſſen um Colma, und unſere Seele ward duͤſter — Ul- lin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins Geſang — Alpins Stimme war freundlich, Rynos Seele ein Feuerſtrahl. Aber ſchon ruhten ſie im engen Hauſe, und ihre Stimme war verhallet in Selma — Einſt kehrt Ullin von der Jagd zuruͤk, eh noch die Helden fielen, er hoͤrte ihren Wette- geſang auf dem Huͤgel, ihr Lied war ſanft, aber traurig, N 3

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/85>, abgerufen am 22.11.2024.