Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.Um halb sieben gieng er nach Albertens Hause, Ein-
Um halb ſieben gieng er nach Albertens Hauſe, Ein-
<TEI> <text> <body> <div type="diaryEntry"> <pb facs="#f0078" n="190"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div> <p>Um halb ſieben gieng er nach Albertens Hauſe,<lb/> und fand Lotten allein, die uͤber ſeinen Beſuch ſehr<lb/> erſchrokken war. Sie hatte ihrem Manne im<lb/> Diskurs geſagt, daß Werther vor Weyhnachts-<lb/> abend nicht wiederkommen wuͤrde. Er ließ bald<lb/> darauf ſein Pferd ſatteln, nahm von ihr Abſchied<lb/> und ſagte, er wolle zu einem Beamten in der Nach-<lb/> barſchaft reiten, mit dem er Geſchaͤfte abzuthun<lb/> habe, und ſo machte er ſich truz der uͤbeln Witte-<lb/> rung fort. Lotte, die wohl wußte, daß er dieſes<lb/> Geſchaͤft ſchon lange verſchoben hatte, daß es ihn<lb/> eine Nacht von Hauſe halten wuͤrde, verſtund die<lb/> Pantomime nur allzu wohl und ward herzlich be-<lb/> truͤbt daruͤber. Sie ſaß in ihrer Einſamkeit, ihr<lb/> Herz ward weich, ſie ſah das Vergangene,<lb/> fuͤhlte all ihren Werth, und ihre Liebe zu ihrem<lb/> Manne, der nun ſtatt des verſprochenen Gluͤks<lb/> anfieng das Elend ihres Lebens zu machen. Jhre<lb/> Gedanken fielen auf Werthern. Sie ſchalt ihn,<lb/> und konnte ihn nicht haſſen. Ein geheimer Zug<lb/> hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntſchaft<lb/> theuer gemacht, und nun, nach ſo viel Zeit, nach<lb/> ſo manchen durchlebten Situationen, mußte ſein<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Ein-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [190/0078]
Um halb ſieben gieng er nach Albertens Hauſe,
und fand Lotten allein, die uͤber ſeinen Beſuch ſehr
erſchrokken war. Sie hatte ihrem Manne im
Diskurs geſagt, daß Werther vor Weyhnachts-
abend nicht wiederkommen wuͤrde. Er ließ bald
darauf ſein Pferd ſatteln, nahm von ihr Abſchied
und ſagte, er wolle zu einem Beamten in der Nach-
barſchaft reiten, mit dem er Geſchaͤfte abzuthun
habe, und ſo machte er ſich truz der uͤbeln Witte-
rung fort. Lotte, die wohl wußte, daß er dieſes
Geſchaͤft ſchon lange verſchoben hatte, daß es ihn
eine Nacht von Hauſe halten wuͤrde, verſtund die
Pantomime nur allzu wohl und ward herzlich be-
truͤbt daruͤber. Sie ſaß in ihrer Einſamkeit, ihr
Herz ward weich, ſie ſah das Vergangene,
fuͤhlte all ihren Werth, und ihre Liebe zu ihrem
Manne, der nun ſtatt des verſprochenen Gluͤks
anfieng das Elend ihres Lebens zu machen. Jhre
Gedanken fielen auf Werthern. Sie ſchalt ihn,
und konnte ihn nicht haſſen. Ein geheimer Zug
hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntſchaft
theuer gemacht, und nun, nach ſo viel Zeit, nach
ſo manchen durchlebten Situationen, mußte ſein
Ein-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |