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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Er ließ sich das Essen auf die Stube bringen,
und nach Tische ritt er hinaus zum Amtmanne,
den er nicht zu Hause antraf. Er gieng tieffinnig
im Garten auf und ab, und schien noch zulezt alle
Schwermuth der Erinnerung auf sich häufen zu
wollen.

Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe,
sie verfolgten ihn, sprangen an ihn hinauf, er-
zählten ihm: daß, wenn Morgen und wieder
Morgen, und noch ein Tag wäre, daß sie die
Christgeschenke bey Lotten holten, und erzählten
ihm Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft
versprach. Morgen! rief er aus, und wieder
Morgen, und noch ein Tag! Und küßte sie alle
herzlich, und wollte sie verlassen, als ihm der kleine
noch was in's Ohr sagen wollte. Der verrieth
ihm, daß die großen Brüder hätten schöne Neu-
jahrswünsche geschrieben, so gros, und einen für
den Papa, für Albert und Lotte einen, und auch
einen für Herrn Werther. Die wollten sie des
Neujahrstags früh überreichen.

Das


Er ließ ſich das Eſſen auf die Stube bringen,
und nach Tiſche ritt er hinaus zum Amtmanne,
den er nicht zu Hauſe antraf. Er gieng tieffinnig
im Garten auf und ab, und ſchien noch zulezt alle
Schwermuth der Erinnerung auf ſich haͤufen zu
wollen.

Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe,
ſie verfolgten ihn, ſprangen an ihn hinauf, er-
zaͤhlten ihm: daß, wenn Morgen und wieder
Morgen, und noch ein Tag waͤre, daß ſie die
Chriſtgeſchenke bey Lotten holten, und erzaͤhlten
ihm Wunder, die ſich ihre kleine Einbildungskraft
verſprach. Morgen! rief er aus, und wieder
Morgen, und noch ein Tag! Und kuͤßte ſie alle
herzlich, und wollte ſie verlaſſen, als ihm der kleine
noch was in’s Ohr ſagen wollte. Der verrieth
ihm, daß die großen Bruͤder haͤtten ſchoͤne Neu-
jahrswuͤnſche geſchrieben, ſo gros, und einen fuͤr
den Papa, fuͤr Albert und Lotte einen, und auch
einen fuͤr Herrn Werther. Die wollten ſie des
Neujahrstags fruͤh uͤberreichen.

Das
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[188/0076] Er ließ ſich das Eſſen auf die Stube bringen, und nach Tiſche ritt er hinaus zum Amtmanne, den er nicht zu Hauſe antraf. Er gieng tieffinnig im Garten auf und ab, und ſchien noch zulezt alle Schwermuth der Erinnerung auf ſich haͤufen zu wollen. Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe, ſie verfolgten ihn, ſprangen an ihn hinauf, er- zaͤhlten ihm: daß, wenn Morgen und wieder Morgen, und noch ein Tag waͤre, daß ſie die Chriſtgeſchenke bey Lotten holten, und erzaͤhlten ihm Wunder, die ſich ihre kleine Einbildungskraft verſprach. Morgen! rief er aus, und wieder Morgen, und noch ein Tag! Und kuͤßte ſie alle herzlich, und wollte ſie verlaſſen, als ihm der kleine noch was in’s Ohr ſagen wollte. Der verrieth ihm, daß die großen Bruͤder haͤtten ſchoͤne Neu- jahrswuͤnſche geſchrieben, ſo gros, und einen fuͤr den Papa, fuͤr Albert und Lotte einen, und auch einen fuͤr Herrn Werther. Die wollten ſie des Neujahrstags fruͤh uͤberreichen. Das

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/76>, abgerufen am 23.11.2024.