Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Flekke, wo Sie neulich aus der Kutsche stiegen --
Sie redte was anders, um mich nicht lieser in den
Text kommen zu lassen. Bester, ich bin dahin!
Sie kann mit mir machen was sie will.




Jch danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen
Antheil, für Deinen wohlmeynenden Rath,
und bitte Dich, ruhig zu seyn. Laß mich ausdul-
den, ich habe bey all meiner Müdseligkeit noch
Kraft genug durchzusezzen. Jch ehre die Religion,
das weist Du, ich fühle, daß sie manchem Ermatte-
ten Stab, manchem Verschmachtenden Erquikkung
ist. Nur -- kann sie denn, muß sie denn das ei-
nem jeden seyn? Wenn Du die große Welt an-
siehst; so siehst du Tausende, denen sie's nicht war,
Tausende denen sie's nicht seyn wird, gepredigt
oder ungepredigt, und muß sie mir's denn seyn?
Sagt nicht selbst der Sohn Gottes: daß die um
ihn seyn würden, die ihm der Vater gegeben hat.
Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn
mich nun der Vater für sich behalten will, wie mir

mein



Flekke, wo Sie neulich aus der Kutſche ſtiegen —
Sie redte was anders, um mich nicht lieſer in den
Text kommen zu laſſen. Beſter, ich bin dahin!
Sie kann mit mir machen was ſie will.




Jch danke Dir, Wilhelm, fuͤr Deinen herzlichen
Antheil, fuͤr Deinen wohlmeynenden Rath,
und bitte Dich, ruhig zu ſeyn. Laß mich ausdul-
den, ich habe bey all meiner Muͤdſeligkeit noch
Kraft genug durchzuſezzen. Jch ehre die Religion,
das weiſt Du, ich fuͤhle, daß ſie manchem Ermatte-
ten Stab, manchem Verſchmachtenden Erquikkung
iſt. Nur — kann ſie denn, muß ſie denn das ei-
nem jeden ſeyn? Wenn Du die große Welt an-
ſiehſt; ſo ſiehſt du Tauſende, denen ſie’s nicht war,
Tauſende denen ſie’s nicht ſeyn wird, gepredigt
oder ungepredigt, und muß ſie mir’s denn ſeyn?
Sagt nicht ſelbſt der Sohn Gottes: daß die um
ihn ſeyn wuͤrden, die ihm der Vater gegeben hat.
Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn
mich nun der Vater fuͤr ſich behalten will, wie mir

mein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <div type="diaryEntry">
          <p><pb facs="#f0047" n="159"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Flekke, wo Sie neulich aus der Kut&#x017F;che &#x017F;tiegen &#x2014;<lb/>
Sie redte was anders, um mich nicht lie&#x017F;er in den<lb/>
Text kommen zu la&#x017F;&#x017F;en. Be&#x017F;ter, ich bin dahin!<lb/>
Sie kann mit mir machen was &#x017F;ie will.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div type="diaryEntry">
          <dateline> <hi rendition="#et">am 15. Nov.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ch danke Dir, Wilhelm, fu&#x0364;r Deinen herzlichen<lb/>
Antheil, fu&#x0364;r Deinen wohlmeynenden Rath,<lb/>
und bitte Dich, ruhig zu &#x017F;eyn. Laß mich ausdul-<lb/>
den, ich habe bey all meiner Mu&#x0364;d&#x017F;eligkeit noch<lb/>
Kraft genug durchzu&#x017F;ezzen. Jch ehre die Religion,<lb/>
das wei&#x017F;t Du, ich fu&#x0364;hle, daß &#x017F;ie manchem Ermatte-<lb/>
ten Stab, manchem Ver&#x017F;chmachtenden Erquikkung<lb/>
i&#x017F;t. Nur &#x2014; kann &#x017F;ie denn, muß &#x017F;ie denn das ei-<lb/>
nem jeden &#x017F;eyn? Wenn Du die große Welt an-<lb/>
&#x017F;ieh&#x017F;t; &#x017F;o &#x017F;ieh&#x017F;t du Tau&#x017F;ende, denen &#x017F;ie&#x2019;s nicht war,<lb/>
Tau&#x017F;ende denen &#x017F;ie&#x2019;s nicht &#x017F;eyn wird, gepredigt<lb/>
oder ungepredigt, und muß &#x017F;ie mir&#x2019;s denn &#x017F;eyn?<lb/>
Sagt nicht &#x017F;elb&#x017F;t der Sohn Gottes: daß die um<lb/>
ihn &#x017F;eyn wu&#x0364;rden, die ihm der Vater gegeben hat.<lb/>
Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn<lb/>
mich nun der Vater fu&#x0364;r &#x017F;ich behalten will, wie mir<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mein</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0047] Flekke, wo Sie neulich aus der Kutſche ſtiegen — Sie redte was anders, um mich nicht lieſer in den Text kommen zu laſſen. Beſter, ich bin dahin! Sie kann mit mir machen was ſie will. am 15. Nov. Jch danke Dir, Wilhelm, fuͤr Deinen herzlichen Antheil, fuͤr Deinen wohlmeynenden Rath, und bitte Dich, ruhig zu ſeyn. Laß mich ausdul- den, ich habe bey all meiner Muͤdſeligkeit noch Kraft genug durchzuſezzen. Jch ehre die Religion, das weiſt Du, ich fuͤhle, daß ſie manchem Ermatte- ten Stab, manchem Verſchmachtenden Erquikkung iſt. Nur — kann ſie denn, muß ſie denn das ei- nem jeden ſeyn? Wenn Du die große Welt an- ſiehſt; ſo ſiehſt du Tauſende, denen ſie’s nicht war, Tauſende denen ſie’s nicht ſeyn wird, gepredigt oder ungepredigt, und muß ſie mir’s denn ſeyn? Sagt nicht ſelbſt der Sohn Gottes: daß die um ihn ſeyn wuͤrden, die ihm der Vater gegeben hat. Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn mich nun der Vater fuͤr ſich behalten will, wie mir mein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/47
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/47>, abgerufen am 24.11.2024.