Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.der Welt keinen Antheil zu nehmen, denn niemand nimmt Antheil an ihr. Eine Frazze, die sich ab- giebt gelehrt zu seyn, sich in die Untersuchung des Canons melirt, gar viel an der neumodischen mo- ralisch kritischen Reformation des Christenthums ar- beitet, und über Lavaters Schwärmereyen die Achseln zukt, eine ganz zerrüttete Gesundheit hat, und auf Gottes Erdboden deswegen keine Freude. So ein Ding war's auch allein, um meine Nußbäume ab- zuhauen. Siehst du, ich komme nicht zu mir! Stelle dir vor, die abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, die Bäume neh- men ihr des Tageslicht, und wenn die Nüsse reif sind, so werfen die Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die Nerven, und das stört sie in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn sie Kennikot, Semler und Michaelis, gegen einander abwiegt. Da ich die Leute im Dorfe, besonders die Alten, so unzufrieden sah, sagt' ich: warum habt ihr's ge- litten? -- Wenn der Schulz will, hier zu Lande, sagten sie, was kann man machen. Aber eins ist recht geschehn, der Schulz und der Pfarrer, der doch auch von seiner Frauen Grillen, die ihm so die
der Welt keinen Antheil zu nehmen, denn niemand nimmt Antheil an ihr. Eine Frazze, die ſich ab- giebt gelehrt zu ſeyn, ſich in die Unterſuchung des Canons melirt, gar viel an der neumodiſchen mo- raliſch kritiſchen Reformation des Chriſtenthums ar- beitet, und uͤber Lavaters Schwaͤrmereyen die Achſeln zukt, eine ganz zerruͤttete Geſundheit hat, und auf Gottes Erdboden deswegen keine Freude. So ein Ding war’s auch allein, um meine Nußbaͤume ab- zuhauen. Siehſt du, ich komme nicht zu mir! Stelle dir vor, die abfallenden Blaͤtter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, die Baͤume neh- men ihr des Tageslicht, und wenn die Nuͤſſe reif ſind, ſo werfen die Knaben mit Steinen darnach, und das faͤllt ihr auf die Nerven, und das ſtoͤrt ſie in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn ſie Kennikot, Semler und Michaelis, gegen einander abwiegt. Da ich die Leute im Dorfe, beſonders die Alten, ſo unzufrieden ſah, ſagt’ ich: warum habt ihr’s ge- litten? — Wenn der Schulz will, hier zu Lande, ſagten ſie, was kann man machen. Aber eins iſt recht geſchehn, der Schulz und der Pfarrer, der doch auch von ſeiner Frauen Grillen, die ihm ſo die
<TEI> <text> <body> <div type="diaryEntry"> <div type="diaryEntry"> <p><pb facs="#f0038" n="150"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> der Welt keinen Antheil zu nehmen, denn niemand<lb/> nimmt Antheil an ihr. Eine Frazze, die ſich ab-<lb/> giebt gelehrt zu ſeyn, ſich in die Unterſuchung des<lb/> Canons melirt, gar viel an der neumodiſchen mo-<lb/> raliſch kritiſchen Reformation des Chriſtenthums ar-<lb/> beitet, und uͤber Lavaters Schwaͤrmereyen die Achſeln<lb/> zukt, eine ganz zerruͤttete Geſundheit hat, und auf<lb/> Gottes Erdboden deswegen keine Freude. So ein<lb/> Ding war’s auch allein, um meine Nußbaͤume ab-<lb/> zuhauen. Siehſt du, ich komme nicht zu mir!<lb/> Stelle dir vor, die abfallenden Blaͤtter machen ihr<lb/> den Hof unrein und dumpfig, die Baͤume neh-<lb/> men ihr des Tageslicht, und wenn die Nuͤſſe reif<lb/> ſind, ſo werfen die Knaben mit Steinen darnach,<lb/> und das faͤllt ihr auf die Nerven, und das ſtoͤrt ſie<lb/> in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn ſie Kennikot,<lb/> Semler und Michaelis, gegen einander abwiegt.<lb/> Da ich die Leute im Dorfe, beſonders die Alten, ſo<lb/> unzufrieden ſah, ſagt’ ich: warum habt ihr’s ge-<lb/> litten? — Wenn der Schulz will, hier zu Lande,<lb/> ſagten ſie, was kann man machen. Aber eins iſt<lb/> recht geſchehn, der Schulz und der Pfarrer, der<lb/> doch auch von ſeiner Frauen Grillen, die ihm ſo<lb/> <fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0038]
der Welt keinen Antheil zu nehmen, denn niemand
nimmt Antheil an ihr. Eine Frazze, die ſich ab-
giebt gelehrt zu ſeyn, ſich in die Unterſuchung des
Canons melirt, gar viel an der neumodiſchen mo-
raliſch kritiſchen Reformation des Chriſtenthums ar-
beitet, und uͤber Lavaters Schwaͤrmereyen die Achſeln
zukt, eine ganz zerruͤttete Geſundheit hat, und auf
Gottes Erdboden deswegen keine Freude. So ein
Ding war’s auch allein, um meine Nußbaͤume ab-
zuhauen. Siehſt du, ich komme nicht zu mir!
Stelle dir vor, die abfallenden Blaͤtter machen ihr
den Hof unrein und dumpfig, die Baͤume neh-
men ihr des Tageslicht, und wenn die Nuͤſſe reif
ſind, ſo werfen die Knaben mit Steinen darnach,
und das faͤllt ihr auf die Nerven, und das ſtoͤrt ſie
in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn ſie Kennikot,
Semler und Michaelis, gegen einander abwiegt.
Da ich die Leute im Dorfe, beſonders die Alten, ſo
unzufrieden ſah, ſagt’ ich: warum habt ihr’s ge-
litten? — Wenn der Schulz will, hier zu Lande,
ſagten ſie, was kann man machen. Aber eins iſt
recht geſchehn, der Schulz und der Pfarrer, der
doch auch von ſeiner Frauen Grillen, die ihm ſo
die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/38 |
Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/38>, abgerufen am 16.02.2025. |