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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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anständigen Vermögen an bis auf den Geist, kei-
ne Stüzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei-
nen Schirm, als den Stand, in dem sie sich ver-
pallisadirt, und kein Ergözzen, als von ihrem Stok-
werk herab über die bürgerlichen Häupter weg zu
sehen. Jn ihrer Jugend soll sie schön gewesen
seyn, und ihr Leben so weggegaukelt, erst mit ih-
rem Eigensinne manchen armen Jungen gequält,
und in reifern Jahren sich unter den Gehorsam
eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die-
sen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr-
ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und starb, und
nun sieht sie im eisernen sich allein, und würde
nicht angesehn, wär ihre Nichte nicht so liebens-
würdig.




Was das für Menschen sind, deren ganze See-
le auf dem Ceremoniel ruht, deren Dich-
ten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie sie
um einen Stuhl weiter hinauf bey Tische sich ein-
schieben wollen. Und nicht, daß die Kerls sonst

keine



anſtaͤndigen Vermoͤgen an bis auf den Geiſt, kei-
ne Stuͤzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei-
nen Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich ver-
palliſadirt, und kein Ergoͤzzen, als von ihrem Stok-
werk herab uͤber die buͤrgerlichen Haͤupter weg zu
ſehen. Jn ihrer Jugend ſoll ſie ſchoͤn geweſen
ſeyn, und ihr Leben ſo weggegaukelt, erſt mit ih-
rem Eigenſinne manchen armen Jungen gequaͤlt,
und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam
eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die-
ſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr-
ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und
nun ſieht ſie im eiſernen ſich allein, und wuͤrde
nicht angeſehn, waͤr ihre Nichte nicht ſo liebens-
wuͤrdig.




Was das fuͤr Menſchen ſind, deren ganze See-
le auf dem Ceremoniel ruht, deren Dich-
ten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie ſie
um einen Stuhl weiter hinauf bey Tiſche ſich ein-
ſchieben wollen. Und nicht, daß die Kerls ſonſt

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[123/0011] anſtaͤndigen Vermoͤgen an bis auf den Geiſt, kei- ne Stuͤzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei- nen Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich ver- palliſadirt, und kein Ergoͤzzen, als von ihrem Stok- werk herab uͤber die buͤrgerlichen Haͤupter weg zu ſehen. Jn ihrer Jugend ſoll ſie ſchoͤn geweſen ſeyn, und ihr Leben ſo weggegaukelt, erſt mit ih- rem Eigenſinne manchen armen Jungen gequaͤlt, und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die- ſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr- ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und nun ſieht ſie im eiſernen ſich allein, und wuͤrde nicht angeſehn, waͤr ihre Nichte nicht ſo liebens- wuͤrdig. den 8. Jan. 1772. Was das fuͤr Menſchen ſind, deren ganze See- le auf dem Ceremoniel ruht, deren Dich- ten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie ſie um einen Stuhl weiter hinauf bey Tiſche ſich ein- ſchieben wollen. Und nicht, daß die Kerls ſonſt keine

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/11>, abgerufen am 22.12.2024.