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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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aus dem sie sich kaum aufgeraft und angekleidet
hatte, als ihr Mann zurükkam, dessen Gegenwart
ihr zum erstenmal ganz unerträglich war; denn
indem sie zitterte, er würde das verweinte über-
wachte ihrer Augen und ihrer Gestalt entdekken,
ward sie noch verwirrter, bewillkommte ihn mit
einer heftigen Umarmung, die mehr Bestürzung
und Reue, als eine auffahrende Freude ausdrük-
te, und eben dadurch machte sie die Aufmerksam-
keit Albertens rege, der, nachdem er einige Briefe
und Pakets erbrochen, sie ganz trokken fragte, ob
sonst nichts vorgefallen, ob niemand da gewesen
wäre? Sie antwortete ihm stokkend, Werther
seye gestern eine Stunde gekommen. -- Er nimmt
seine Zeit gut, versezt er, und ging nach seinem
Zimmer. Lotte war eine Viertelstunde allein
geblieben. Die Gegenwart des Mannes, den sie
liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr
Herz gemacht. Sie erinnerte sich all seiner Gü-
te, seines Edelmuths, seiner Liebe, und schalt sich,
daß sie es ihm so übel gelohnt habe. Ein unbe-
kannter Zug reizte sie ihm zu folgen, sie nahm
ihre Arbeit, wie sie mehr gethan hatte, ging nach
seinem Zimmer und fragte, ob er was bedürfte?

er



aus dem ſie ſich kaum aufgeraft und angekleidet
hatte, als ihr Mann zuruͤkkam, deſſen Gegenwart
ihr zum erſtenmal ganz unertraͤglich war; denn
indem ſie zitterte, er wuͤrde das verweinte uͤber-
wachte ihrer Augen und ihrer Geſtalt entdekken,
ward ſie noch verwirrter, bewillkommte ihn mit
einer heftigen Umarmung, die mehr Beſtuͤrzung
und Reue, als eine auffahrende Freude ausdruͤk-
te, und eben dadurch machte ſie die Aufmerkſam-
keit Albertens rege, der, nachdem er einige Briefe
und Pakets erbrochen, ſie ganz trokken fragte, ob
ſonſt nichts vorgefallen, ob niemand da geweſen
waͤre? Sie antwortete ihm ſtokkend, Werther
ſeye geſtern eine Stunde gekommen. — Er nimmt
ſeine Zeit gut, verſezt er, und ging nach ſeinem
Zimmer. Lotte war eine Viertelſtunde allein
geblieben. Die Gegenwart des Mannes, den ſie
liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr
Herz gemacht. Sie erinnerte ſich all ſeiner Guͤ-
te, ſeines Edelmuths, ſeiner Liebe, und ſchalt ſich,
daß ſie es ihm ſo uͤbel gelohnt habe. Ein unbe-
kannter Zug reizte ſie ihm zu folgen, ſie nahm
ihre Arbeit, wie ſie mehr gethan hatte, ging nach
ſeinem Zimmer und fragte, ob er was beduͤrfte?

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[214/0102] aus dem ſie ſich kaum aufgeraft und angekleidet hatte, als ihr Mann zuruͤkkam, deſſen Gegenwart ihr zum erſtenmal ganz unertraͤglich war; denn indem ſie zitterte, er wuͤrde das verweinte uͤber- wachte ihrer Augen und ihrer Geſtalt entdekken, ward ſie noch verwirrter, bewillkommte ihn mit einer heftigen Umarmung, die mehr Beſtuͤrzung und Reue, als eine auffahrende Freude ausdruͤk- te, und eben dadurch machte ſie die Aufmerkſam- keit Albertens rege, der, nachdem er einige Briefe und Pakets erbrochen, ſie ganz trokken fragte, ob ſonſt nichts vorgefallen, ob niemand da geweſen waͤre? Sie antwortete ihm ſtokkend, Werther ſeye geſtern eine Stunde gekommen. — Er nimmt ſeine Zeit gut, verſezt er, und ging nach ſeinem Zimmer. Lotte war eine Viertelſtunde allein geblieben. Die Gegenwart des Mannes, den ſie liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr Herz gemacht. Sie erinnerte ſich all ſeiner Guͤ- te, ſeines Edelmuths, ſeiner Liebe, und ſchalt ſich, daß ſie es ihm ſo uͤbel gelohnt habe. Ein unbe- kannter Zug reizte ſie ihm zu folgen, ſie nahm ihre Arbeit, wie ſie mehr gethan hatte, ging nach ſeinem Zimmer und fragte, ob er was beduͤrfte? er

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/102>, abgerufen am 23.11.2024.