Was mich am meisten nekt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Zwar weis ich so gut als einer, wie nöthig der Unterschied der Stände ist, wie viel Vortheile er mir selbst verschafft, nur soll er mir nicht eben grad im Wege stehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Glük auf dieser Erden geniessen könnte. Jch lern- te neulich auf dem Spaziergange ein Fräulein von B.. kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das sehr viele Natur mitten in dem steifen Leben er- halten hat. Wir gefielen uns in unserm Gesprä- che, und da wir schieden, bat ich sie um Erlaub- niß, sie bey sich sehen zu dürfen. Sie gestattete mir das mit so viel Freymüthigkeit, daß ich den schiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht von hier, und wohnt bey einer Tante im Hause. Die Physiognomie der al- ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein Gespräch war meist an sie gewandt, und in minder als einer halben Stun- de hatte ich so ziemlich weg, was mir das Fräu- lein nachher selbst gestund: daß die liebe Tante in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom
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Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe. Zwar weis ich ſo gut als einer, wie noͤthig der Unterſchied der Staͤnde iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur ſoll er mir nicht eben grad im Wege ſtehn, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von Gluͤk auf dieſer Erden genieſſen koͤnnte. Jch lern- te neulich auf dem Spaziergange ein Fraͤulein von B.. kennen, ein liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf, das ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben er- halten hat. Wir gefielen uns in unſerm Geſpraͤ- che, und da wir ſchieden, bat ich ſie um Erlaub- niß, ſie bey ſich ſehen zu duͤrfen. Sie geſtattete mir das mit ſo viel Freymuͤthigkeit, daß ich den ſchiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey einer Tante im Hauſe. Die Phyſiognomie der al- ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpraͤch war meiſt an ſie gewandt, und in minder als einer halben Stun- de hatte ich ſo ziemlich weg, was mir das Fraͤu- lein nachher ſelbſt geſtund: daß die liebe Tante in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom
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Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen
buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe. Zwar weis ich ſo gut
als einer, wie noͤthig der Unterſchied der Staͤnde
iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur
ſoll er mir nicht eben grad im Wege ſtehn, wo ich
noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Gluͤk auf dieſer Erden genieſſen koͤnnte. Jch lern-
te neulich auf dem Spaziergange ein Fraͤulein von
B.. kennen, ein liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf, das
ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben er-
halten hat. Wir gefielen uns in unſerm Geſpraͤ-
che, und da wir ſchieden, bat ich ſie um Erlaub-
niß, ſie bey ſich ſehen zu duͤrfen. Sie geſtattete
mir das mit ſo viel Freymuͤthigkeit, daß ich den
ſchiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr
zu gehen. Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey
einer Tante im Hauſe. Die Phyſiognomie der al-
ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr
viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpraͤch war meiſt an
ſie gewandt, und in minder als einer halben Stun-
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/10>, abgerufen am 16.02.2025.
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