Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.kein Gefühl an der Natur und die Bücher speien mich alle an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. Jch schwöre Dir, manchmal wünschte ich ein Taglöhner zu seyn, um nur des Morgens bey'm Erwachen eine Aussicht auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hofnung zu ha- ben. Oft beneid ich Alberten, den ich über die Ohren in Akten begraben sehe, und bilde mir ein: mir wär's wohl, wenn ich an seiner Stelle wäre! Schon etlichemal ist mir's so aufgefahren, ich woll- te Dir schreiben und dem Minister, und um die Stelle bey der Gesandtschaft anhalten, die, wie Du versicherst, mir nicht versagt werden würde. Jch glaube es selbst, der Minister liebt mich seit lange, hatte lange mir angelegen, ich sollte mich employi- ren, und eine Stunde ist mir's auch wohl drum zu thun; hernach, wenn ich so wieder dran denke, und mir die Fabel vom Pferde einfällt, das seiner Freyheit ungedultig, sich Sattel und Zeug auflegen läßt, und zu Schanden geritten wird. Jch weis nicht, was ich soll -- Und mein Lieber! Jst nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Verände- rung G
kein Gefuͤhl an der Natur und die Buͤcher ſpeien mich alle an. Wenn wir uns ſelbſt fehlen, fehlt uns doch alles. Jch ſchwoͤre Dir, manchmal wuͤnſchte ich ein Tagloͤhner zu ſeyn, um nur des Morgens bey’m Erwachen eine Ausſicht auf den kuͤnftigen Tag, einen Drang, eine Hofnung zu ha- ben. Oft beneid ich Alberten, den ich uͤber die Ohren in Akten begraben ſehe, und bilde mir ein: mir waͤr’s wohl, wenn ich an ſeiner Stelle waͤre! Schon etlichemal iſt mir’s ſo aufgefahren, ich woll- te Dir ſchreiben und dem Miniſter, und um die Stelle bey der Geſandtſchaft anhalten, die, wie Du verſicherſt, mir nicht verſagt werden wuͤrde. Jch glaube es ſelbſt, der Miniſter liebt mich ſeit lange, hatte lange mir angelegen, ich ſollte mich employi- ren, und eine Stunde iſt mir’s auch wohl drum zu thun; hernach, wenn ich ſo wieder dran denke, und mir die Fabel vom Pferde einfaͤllt, das ſeiner Freyheit ungedultig, ſich Sattel und Zeug auflegen laͤßt, und zu Schanden geritten wird. Jch weis nicht, was ich ſoll — Und mein Lieber! Jſt nicht vielleicht das Sehnen in mir nach Veraͤnde- rung G
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kein Gefuͤhl an der Natur und die Buͤcher ſpeien
mich alle an. Wenn wir uns ſelbſt fehlen, fehlt
uns doch alles. Jch ſchwoͤre Dir, manchmal
wuͤnſchte ich ein Tagloͤhner zu ſeyn, um nur des
Morgens bey’m Erwachen eine Ausſicht auf den
kuͤnftigen Tag, einen Drang, eine Hofnung zu ha-
ben. Oft beneid ich Alberten, den ich uͤber die
Ohren in Akten begraben ſehe, und bilde mir ein:
mir waͤr’s wohl, wenn ich an ſeiner Stelle waͤre!
Schon etlichemal iſt mir’s ſo aufgefahren, ich woll-
te Dir ſchreiben und dem Miniſter, und um die
Stelle bey der Geſandtſchaft anhalten, die, wie Du
verſicherſt, mir nicht verſagt werden wuͤrde. Jch
glaube es ſelbſt, der Miniſter liebt mich ſeit lange,
hatte lange mir angelegen, ich ſollte mich employi-
ren, und eine Stunde iſt mir’s auch wohl drum
zu thun; hernach, wenn ich ſo wieder dran denke,
und mir die Fabel vom Pferde einfaͤllt, das ſeiner
Freyheit ungedultig, ſich Sattel und Zeug auflegen
laͤßt, und zu Schanden geritten wird. Jch weis
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