Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.ihr den Daumen. Da hatt' ich das Lamentiren, und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und seit der Zeit laß ich all das Gewehr ungeladen. Lieber Schaz, was ist Vorsicht! die Gefahr läßt sich nicht auslernen! Zwar -- Nun weißt du, daß ich den Menschen sehr lieb habe bis auf seine Zwar. Denn versteht sich's nicht von selbst, daß jeder all- gemeine Saz Ausnahmen leidet. Aber so recht- fertig ist der Mensch, wenn er glaubt, etwas über- eiltes, allgemeines, halbwahres gesagt zu haben; so hört er dir nicht auf zu limitiren, modificiren, und ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts mehr an der Sache ist. Und bey diesem Anlasse kam er sehr tief in Text, und ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffah- renden Gebährde druckt ich mir die Mündung der Pistolen übers rechte Aug an die Stirn. Pfuy sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog, was soll das! -- Sie ist nicht geladen, sagt ich. -- Und auch so! Was soll's? versezt er ungedultig. Jch kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so thörigt seyn kann, sich zu erschiessen; der blosse Gedanke erregt mir Widerwillen. Daß
ihr den Daumen. Da hatt’ ich das Lamentiren, und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und ſeit der Zeit laß ich all das Gewehr ungeladen. Lieber Schaz, was iſt Vorſicht! die Gefahr laͤßt ſich nicht auslernen! Zwar — Nun weißt du, daß ich den Menſchen ſehr lieb habe bis auf ſeine Zwar. Denn verſteht ſich’s nicht von ſelbſt, daß jeder all- gemeine Saz Ausnahmen leidet. Aber ſo recht- fertig iſt der Menſch, wenn er glaubt, etwas uͤber- eiltes, allgemeines, halbwahres geſagt zu haben; ſo hoͤrt er dir nicht auf zu limitiren, modificiren, und ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts mehr an der Sache iſt. Und bey dieſem Anlaſſe kam er ſehr tief in Text, und ich hoͤrte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffah- renden Gebaͤhrde druckt ich mir die Muͤndung der Piſtolen uͤbers rechte Aug an die Stirn. Pfuy ſagte Albert, indem er mir die Piſtole herabzog, was ſoll das! — Sie iſt nicht geladen, ſagt ich. — Und auch ſo! Was ſoll’s? verſezt er ungedultig. Jch kann mir nicht vorſtellen, wie ein Menſch ſo thoͤrigt ſeyn kann, ſich zu erſchieſſen; der bloſſe Gedanke erregt mir Widerwillen. Daß
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ihr den Daumen. Da hatt’ ich das Lamentiren,
und den Barbierer zu bezahlen oben drein, und
ſeit der Zeit laß ich all das Gewehr ungeladen.
Lieber Schaz, was iſt Vorſicht! die Gefahr laͤßt ſich
nicht auslernen! Zwar — Nun weißt du, daß
ich den Menſchen ſehr lieb habe bis auf ſeine Zwar.
Denn verſteht ſich’s nicht von ſelbſt, daß jeder all-
gemeine Saz Ausnahmen leidet. Aber ſo recht-
fertig iſt der Menſch, wenn er glaubt, etwas uͤber-
eiltes, allgemeines, halbwahres geſagt zu haben; ſo
hoͤrt er dir nicht auf zu limitiren, modificiren, und
ab und zu zu thun, bis zulezt gar nichts mehr an
der Sache iſt. Und bey dieſem Anlaſſe kam er ſehr
tief in Text, und ich hoͤrte endlich gar nicht weiter
auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffah-
renden Gebaͤhrde druckt ich mir die Muͤndung der
Piſtolen uͤbers rechte Aug an die Stirn. Pfuy
ſagte Albert, indem er mir die Piſtole herabzog,
was ſoll das! — Sie iſt nicht geladen, ſagt ich. —
Und auch ſo! Was ſoll’s? verſezt er ungedultig.
Jch kann mir nicht vorſtellen, wie ein Menſch ſo
thoͤrigt ſeyn kann, ſich zu erſchieſſen; der bloſſe
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/80>, abgerufen am 21.07.2024. |