Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Und nennen sie mir den Menschen, der übler Lau-
ne ist und so brav dabey sie zu verbergen, sie al-
lein zu tragen, ohne die Freuden um sich her zu
zerstören; oder ist sie nicht vielmehr ein innerer
Unmuth über unsre eigne Unwürdigkeit, ein Mis-
fallen an uns selbst, das immer mit einem Neide
verknüpft ist, der durch eine thörige Eitelkeit auf-
gehezt wird: wir sehen glükliche Menschen die
wir nicht glüklich machen, und das ist unerträg-
lich! Lotte lächelte mich an, da sie die Bewegung
sah mit der ich redte, und eine Thräne in Frie-
derikens Auge spornte mich, fortzufahren. Weh
denen sagt ich, die sich der Gewalt bedienen, die
sie über ein Herz haben, um ihm die einfachen
Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkei-
men. Alle Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt
ersezzen nicht einen Augenblik Vergnügen an sich
selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit un-
sers Tyrannen vergällt hat.

Mein ganzes Herz war voll in diesem Au-
genblikke, die Erinnerung so manches Vergangenen
drängte sich an meine Seele, und die Thränen ka-
men mir in die Augen.

Wer
D 5



Und nennen ſie mir den Menſchen, der uͤbler Lau-
ne iſt und ſo brav dabey ſie zu verbergen, ſie al-
lein zu tragen, ohne die Freuden um ſich her zu
zerſtoͤren; oder iſt ſie nicht vielmehr ein innerer
Unmuth uͤber unſre eigne Unwuͤrdigkeit, ein Mis-
fallen an uns ſelbſt, das immer mit einem Neide
verknuͤpft iſt, der durch eine thoͤrige Eitelkeit auf-
gehezt wird: wir ſehen gluͤkliche Menſchen die
wir nicht gluͤklich machen, und das iſt unertraͤg-
lich! Lotte laͤchelte mich an, da ſie die Bewegung
ſah mit der ich redte, und eine Thraͤne in Frie-
derikens Auge ſpornte mich, fortzufahren. Weh
denen ſagt ich, die ſich der Gewalt bedienen, die
ſie uͤber ein Herz haben, um ihm die einfachen
Freuden zu rauben, die aus ihm ſelbſt hervorkei-
men. Alle Geſchenke, alle Gefaͤlligkeiten der Welt
erſezzen nicht einen Augenblik Vergnuͤgen an ſich
ſelbſt, den uns eine neidiſche Unbehaglichkeit un-
ſers Tyrannen vergaͤllt hat.

Mein ganzes Herz war voll in dieſem Au-
genblikke, die Erinnerung ſo manches Vergangenen
draͤngte ſich an meine Seele, und die Thraͤnen ka-
men mir in die Augen.

Wer
D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="diaryEntry">
        <p><pb facs="#f0057" n="57"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Und nennen &#x017F;ie mir den Men&#x017F;chen, der u&#x0364;bler Lau-<lb/>
ne i&#x017F;t und &#x017F;o brav dabey &#x017F;ie zu verbergen, &#x017F;ie al-<lb/>
lein zu tragen, ohne die Freuden um &#x017F;ich her zu<lb/>
zer&#x017F;to&#x0364;ren; oder i&#x017F;t &#x017F;ie nicht vielmehr ein innerer<lb/>
Unmuth u&#x0364;ber un&#x017F;re eigne Unwu&#x0364;rdigkeit, ein Mis-<lb/>
fallen an uns &#x017F;elb&#x017F;t, das immer mit einem Neide<lb/>
verknu&#x0364;pft i&#x017F;t, der durch eine tho&#x0364;rige Eitelkeit auf-<lb/>
gehezt wird: wir &#x017F;ehen glu&#x0364;kliche Men&#x017F;chen die<lb/>
wir nicht glu&#x0364;klich machen, und das i&#x017F;t unertra&#x0364;g-<lb/>
lich! Lotte la&#x0364;chelte mich an, da &#x017F;ie die Bewegung<lb/>
&#x017F;ah mit der ich redte, und eine Thra&#x0364;ne in Frie-<lb/>
derikens Auge &#x017F;pornte mich, fortzufahren. Weh<lb/>
denen &#x017F;agt ich, die &#x017F;ich der Gewalt bedienen, die<lb/>
&#x017F;ie u&#x0364;ber ein Herz haben, um ihm die einfachen<lb/>
Freuden zu rauben, die aus ihm &#x017F;elb&#x017F;t hervorkei-<lb/>
men. Alle Ge&#x017F;chenke, alle Gefa&#x0364;lligkeiten der Welt<lb/>
er&#x017F;ezzen nicht einen Augenblik Vergnu&#x0364;gen an &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, den uns eine neidi&#x017F;che Unbehaglichkeit un-<lb/>
&#x017F;ers Tyrannen verga&#x0364;llt hat.</p><lb/>
        <p>Mein ganzes Herz war voll in die&#x017F;em Au-<lb/>
genblikke, die Erinnerung &#x017F;o manches Vergangenen<lb/>
dra&#x0364;ngte &#x017F;ich an meine Seele, und die Thra&#x0364;nen ka-<lb/>
men mir in die Augen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">D 5</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Wer</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0057] Und nennen ſie mir den Menſchen, der uͤbler Lau- ne iſt und ſo brav dabey ſie zu verbergen, ſie al- lein zu tragen, ohne die Freuden um ſich her zu zerſtoͤren; oder iſt ſie nicht vielmehr ein innerer Unmuth uͤber unſre eigne Unwuͤrdigkeit, ein Mis- fallen an uns ſelbſt, das immer mit einem Neide verknuͤpft iſt, der durch eine thoͤrige Eitelkeit auf- gehezt wird: wir ſehen gluͤkliche Menſchen die wir nicht gluͤklich machen, und das iſt unertraͤg- lich! Lotte laͤchelte mich an, da ſie die Bewegung ſah mit der ich redte, und eine Thraͤne in Frie- derikens Auge ſpornte mich, fortzufahren. Weh denen ſagt ich, die ſich der Gewalt bedienen, die ſie uͤber ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm ſelbſt hervorkei- men. Alle Geſchenke, alle Gefaͤlligkeiten der Welt erſezzen nicht einen Augenblik Vergnuͤgen an ſich ſelbſt, den uns eine neidiſche Unbehaglichkeit un- ſers Tyrannen vergaͤllt hat. Mein ganzes Herz war voll in dieſem Au- genblikke, die Erinnerung ſo manches Vergangenen draͤngte ſich an meine Seele, und die Thraͤnen ka- men mir in die Augen. Wer D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/57
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/57>, abgerufen am 28.11.2024.